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Das Herz der Puppe

Das Herz der Puppe

Titel: Das Herz der Puppe
Autoren: Carl Hanser Verlag
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irgendwann erreichen die Kinder, ohne es zu merken, das geheimnisvolle Tor zum Reich der Erwachsenen, und von der anderen Seite des Tores kommen buntes Licht und Musik, kommen der Duft und das geflüster einer anderen Welt und versprechen ein großes Abenteuer. Wie benommen gehen die Kinder auf das Tor zu, und uns lassen sie einfach fallen. Sie gehen durch das Tor und sind für immer verschwunden. Von dem Tag an hören sie uns auch nicht mehr. Ihr eines Ohr wird zum Dach und das andere zur Dachrinne, da können wir noch so viele Wörter regnen lassen, sie hören uns nicht. Und was wird aus uns? Wir bleiben im Schrank, auf dem Regal, unterm Bett oder in einem Karton auf dem Dachboden zurück.«
    »Bei uns ist es nicht anders. Aber mir ist das egal. Hauptsache, es gibt genug zu fressen«, sagte das Nilpferd.
    »Mir ist das überhaupt nicht egal«, zürnte der Papagei. »Ich brauche Menschen um mich, Dickbauch! Menschen sind sehr nützliche Tiere. Sie belohnen mich, wenn ich wiederhole, was sie sagen.«
    »Kinder sind mir am liebsten«, sagte Wolke, das kleine Schaf. »Die Erwachsenen sind herzlos. Manche werfen einen sogar weg.«
    »Ich will jedenfalls für immer bei Nina bleiben«, flüsterte Plums, der Affe.
    »Man weiß nur nicht, ob sie uns später noch haben will«, sagte Widu leise.
    »Ich werde nicht erwachsen«, sagte Nina, der die Trauer in Widus Stimme nicht entgangen war. Dann drückte sie die Puppe fest an sich und schlief ein.
    Widu streichelte die Haare des Mädchens. Sie wusste aus Erfahrung, dass Nina ihr nur hatte sagen wollen, wie gern sie sie hatte. Widu kannte sich mit Kindern aus.
    Die Puppe blieb die ganze Nacht wach, und immer wenn sie eine Portion Angst aus Ninas Träumen saugte, lächelte sie. Einmal war es sogar ein Albtraum: Nina wurde von einem Pferd verfolgt, das wütend war, weil seine Freundin, die Ziege, sich in einen Esel verliebt und es verlassen hatte. Albträume waren das Beste. An der großen Portion Angst daraus hatte Widu eine ganze Stunde lang zu knabbern, und sie war glücklich, als sie spürte, wie ruhig Nina danach schlief.
    »Möchte nur mal wissen, was es im Bett zu schmatzen gibt«, grummelte das Nilpferd neidisch.
    »Gib Ruhe, großmaul, du weckst das Mädchen noch!«, krächzte der Papagei heiser.
    Widu lächelte und beobachtete vergnügt, wie ihre Hand auf Ninas Brust bei jedem Herzschlag hüpfte. Sie musste an das kleine Schaf Wolke denken. Wolke behauptete, die Erwachsenen seien herzlos , und sprach das Wort wie ein Schimpfwort aus. Aber was sollte daran eigentlich so schlimm sein, dass jemand kein Herz hatte? Hatte Wolke sie nicht gestern erst gelobt? »Widu«, hatte Wolke gesagt, »du bist nicht nur klug, sondern auch eine gute Seele.« Ja, g ute Seele hatte Wolke gesagt. Und Wolke wusste genau, dass Widu auch kein Herz hatte. Alle Kuscheltiere wussten das, da Puppen und Kuscheltiere alles voneinander wussten. Nun ja, vielleicht hatte Wolke, das Schaf, mit Erwachsenen schlechte Erfahrungen gemacht, und jetzt war ihm kein anderes Wort eingefallen, böse oder g emein zum Beispiel.
    So überlegte Widu noch eine Weile, dann schlief sie in Ninas Armen ein.

Warum Mütter vergesslich sind
    Tante Olga kam gerne, wenn Ninas Mutter ihre Hilfe brauchte, aber manchmal kam sie auch nur so zu Besuch. Dann gab es die feinsten Pralinen. Ninas Mutter kaufte sonst selten Pralinen, aber Tante Olga hatte sie schon als Kind sehr gemocht, für sie war das Beste gerade gut genug. Die alte Frau war die Schwester ihres Vaters und lebte als Witwe am anderen Ende der Stadt. Wenn sie schön angezogen nur so zu Besuch kam, wollte sie weder Mittagessen noch Kuchen, nur einen starken Kaffee, einen Schnaps und einen Teller voll Pralinen. Mit nichts kannte sie sich besser aus als mit Kaffee, Schnaps und Pralinen. Deshalb kaufte die Mutter an solchen Tagen die Pralinen auch nicht im Supermarkt, sondern beim Konditor Johann. Da waren sie viel teurer, aber dafür schmeckten sie himmlisch.
    »Hiiiiimmlisch!«, stöhnte Tante Olga dann genießerisch.
    Nina hätte zu gern auch einmal eine Praline gekostet, aber die Mutter hatte etwas dagegen. Angeblich war in den Pralinen vom Konditor Johann Alkohol.
    Wenn Tante Olga zu Besuch kam, winkten die Nachbarn ihr aus den Fenstern zu, sogar hier in der neuen Straße. Alle kannten sie schon, und wenn sie sahen, dass sie sich fein zurechtgemacht hatte, wussten sie: Tante Olga kommt heute nur so zu Besuch und nicht, weil es irgendetwas zu helfen gibt.
    Als Tante
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