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Das Herz der Puppe

Das Herz der Puppe

Titel: Das Herz der Puppe
Autoren: Carl Hanser Verlag
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Unterkiefer wackelte.
    An einem anderen Stand sah Nina einen traurigen Pinocchio mit abgebrochener Nase.
    »Ich habe die Wahrheit gesagt und wurde dafür ziemlich heftig belohnt«, sagte er.
    Nina schlenderte weiter. Sie sah noch einen einarmigen Bären, einen gockel mit glatze, einen Elefanten ohne Rüssel und einen einohrigen grauen Esel und tröstete sie alle, so gut es ging.
    Dann sah sie in einer großen weißen Schüssel unter einem Tisch die Puppe liegen. Die Schüssel war tief, und Nina sah erst nur ein Bein, das steif in die Luft ragte. In ihrem Herzen aber wusste sie, dass sie gleich genau das finden würde, wonach sie die ganze Zeit gesucht hatte. Sie kniete sich nieder und zog die Puppe an sich. Sie sah ihr tief in die grünen Augen und bewunderte ihr feuerrotes Haar. Dann strich sie ihr vorsichtig über den Kopf.
     
     
     
    »Das ist sie«, flüsterte sie und spürte dabei ihr Herz klopfen. Sie schaute sich um. Ihre Eltern sprachen gerade mit dem Händler, unter dessen Tisch die Puppe gelegen hatte. Es ging um eine alte Lampe aus Messing und grünem glas.
    Die Haare der Puppe erinnerten Nina an ihre Freundin Luisa, und ihre grünen Augen waren die von Julian. Nur waren die der Puppe noch frecher.
    »Wie viel kostet die Puppe?«, fragte Nina, doch der Händler beachtete sie nicht. Er schwärmte gerade in den höchsten Tönen von der herrlichen Lampe.
    »Wie viel soll sie denn nun kosten?«, unterbrach der Vater ihn ungeduldig.
    »Mein letztes Wort: hundertfünfzig. Im Antiquitätenladen zahlen Sie dafür dreihundert«, antwortete der Händler.
    »Und die Puppe?«, rief Nina dazwischen. »Wie viel kostet die Puppe?«
    Der Händler schob seine Wollmütze zurück, kratzte sich am Kopf, sah Nina mit der Puppe an, rieb sich den Stoppelbart und lächelte. »Drei Euro«, flüsterte er und wandte sich auch schon einer Dame zu, die ein altes Bild in Händen hielt, auf dem Kinder auf einem wackeligen Steg mit ihrem Schutzengel zu sehen waren. »Zwanzig«, sagte der Händler, ohne dass die Dame danach gefragt hätte.
    »Zwei«, rief Nina, die von ihren Eltern gelernt hatte, dass man auf dem Flohmarkt handelt. Ihr Vater hörte sie, stupste ihre Mutter an und lächelte.
    Der Händler wusste nun, zu wem das kleine Mädchen gehörte, und spielte den Eltern zuliebe das Spiel mit.
    »Mein gott«, stöhnte er verzweifelt, »dann eben zwei! Obwohl das eine ganz besondere Puppe ist.«
    »Ich weiß«, flüsterte Nina ernst.
    Dann einigte sich der Händler auch mit den Eltern und verkaufte die Lampe für hundertzwanzig Euro. Sorgfältig wickelte er sie in Zeitungspapier und übergab sie dem Vater, dankte und verabschiedete sich freundlich.
    »Und du passt gut auf die Puppe auf«, sagte er zu Nina. »Es waren schon viele da, die sie haben wollten, aber sie hat auf dich gewartet. Sie hat sich immer so gut versteckt, dass ich sie manchmal erst zu gesicht bekommen habe, wenn ich wieder zu Hause war. Seit zwei Jahren ist sie jetzt schon bei mir, und genauso lange versteckt sie sich auf jedem Flohmarkt unterm Tisch. Du passt gut auf sie auf, versprochen?«
    »Versprochen«, sagte Nina, drückte die Puppe fest an die Brust und atmete ihren geruch ein. Sie roch angenehm nach feuchtem Stroh.
    »Er ist ein gauner«, flüsterte die Puppe. »Es stimmt gar nicht, dass ich mich verstecke. Ich wollte schon immer fort, aber er hat mich jedes Mal so hingelegt, dass mich keiner finden konnte. Es war nämlich klar, dass ich ihm nicht viel geld einbringe, und nur was geld einbringt, wird schön oben auf dem Tisch präsentiert. Alles andere wird in Kartons und Kisten unter den Tisch geworfen. Sogar in eine hässliche Schüssel!«
    Als sie ein paar Stände weiter waren, erklärte Nina ihren Eltern, wie das mit den teuren und billigen Sachen funktionierte.
    »Hört, hört, unsere Nina wird allmählich zu einem Flohmarktprofi«, lachte die Mutter, und der Vater freute sich mit. Die beiden waren stolz auf ihr Mädchen, das alles so schnell lernte.
    »Und wo warst du davor?«, fragte Nina die Puppe, als sie wieder für sich waren. Sie flüsterte leise, damit niemand sie hörte.
    »In einem alten Haus auf dem Dachboden. Als die alte Hausbesitzerin starb, verkauften ihre Söhne ihren ganzen Krempel, wie sie es nannten, und mich gaben sie dem Händler gratis dazu.«
    »Du Arme«, flüsterte Nina und zog die Puppe wieder fest an sich. »Haben sie dich dort nicht lieb gehabt?«
    »Sie hatten mich lieb, als sie noch klein waren, aber dann haben sie mich
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