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Das helle Gesicht

Das helle Gesicht

Titel: Das helle Gesicht
Autoren: Liselotte Welskopf-Henrich
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festgebunden war. Der junge indianische Fahrer war gewandt; er schlüpfte mit seinem schlanken Gefährt zwischen den Straßenkreuzern in den Avenuen, zwischen Lastwagen in den Geschäftsvierteln, zwischen Fußgängern in den Slums und Vorstädten hindurch. Ray hielt seine Schußwaffe wohl verborgen.
    Ite-ska-wih sah ein letztes Mal den großen schmutzigen See, den sie ein einziges Mal als Kind mit ihrer Schulklasse gesehen hatte.
    Dieses Leben lag hinter ihr. Ein neues Leben begann. Es stand unter dem Schutz und dem Schatten, den der Tod eines Häuptlings darüber legte.
     
    Hanska erinnerte sich der Straßen, durch die er mit seinem Wahlvater Joe Inya-he-yukan in die große Stadt eingefahren war. Aber als er im Rückspiegel Verfolger erkannte, wurde es schwierig für ihn, sie zu narren, ohne sich in der Stadt zu verirren. Ray sollte nach Möglichkeit nicht gezwungen sein zu schießen. Hanska wollte sich nur auf die Schnelligkeit seines Jaguar und auf seine eigene Geschicklichkeit im Fahren verlassen, die er jedoch noch nie in einer Großstadt mit Verkehrsampeln hatte üben können. Er gewann und er verlor Abstand. Endlich konnte er aus dem Gewirr der Straßen hinausgelangen, ehe die Verfolger ihn anfuhren oder ihm in die Reifen schossen. Auf der Ausfallstraße ging er auf die höchste Geschwindigkeit, die er aus seinem Wagen herausholen konnte. 60 Meilen in der Stunde waren erlaubt, 125 fuhr er. Polizei begegnete ihm nicht; er verursachte keinen Unfall. So blieb er unbehelligt. Als er den Abstand zu den Verfolgern gehörig vergrößert hatte, bremste er ab und nahm einen Seitenweg.
    Der Abend sank herein. Weit reichte der Blick über flaches Land bis zu dem gelb-glühenden Horizont, der keine Grenze war, der nichts als Lockung war, denn seine Unendlichkeit würde bald auch am Himmelsrand der fernen Prärie im Sonnenfeuer des vergehenden Tages aufflammen.
    Sobald es dunkel geworden war und die Sterne der mondlosen Nacht flimmerten, hielt Hanska abseits des Weges an. Er band den toten Inya-he-yukan Stonehorn los und legte ihn mit Rays Hilfe auf die Wiese zwischen Gebüsch, geschützt von der Decke aus Büffelhaut. Ray verstand und ging zu den Frauen, um Hanska mit Joe Stonehorn, seinem Wahlvater, allein zu lassen. Der Tote trug noch Krone und Schleppe aus Adlerfedern und ein spitzes zweischneidiges Messer in der Scheide. Den Schulterriemen mit zwei Pistolen hatte Hanska schon vor der Fahrt abgenommen und selbst angelegt. Diese wollte er behalten. Das Messer sollte mit dem Toten gehen; es war seine Waffe. Alle hatten davon gewußt und sie geachtet.
    Als Hanska sich mit Stonehorn allein wußte, warf er sich auf den Boden, verbarg sein Gesicht an der Mutter Erde, verkrampfte seine Hände im Gras, das aus der Erde wuchs. Sein Stöhnen blieb erstickt, er biß auf Stein.
    Stonehorn war tot. Nacht war über dem Land.
    Hanska hatte zum zweiten Mal seinen Vater verloren. Der erste war an einer heimtückischen Krankheit gestorben, die aus der kümmerlichen Ernährung herrührte. Hanska hatte zum zweiten Mal seine Mutter verloren. Der Geist der ersten hatte sich umnachtet. Queenie Tashina, seine Wahlmutter, die schöne und sanfte, war verschwunden, ermordet und verschleppt, damit niemand den Mord beweisen könne. Hanska war entschlossen, Joe Inya-he-yukan, den Toten, zu verbergen, so, wie einst Häuptling Crazy Horse von seinen Eltern begraben und verborgen worden war. Niemand hatte ihn je gefunden; niemand hatte das Geheimnis verraten; niemand konnte den Toten schänden.
    Hanska war auf einmal nicht mehr allein. Mit dem Toten zusammen hatte er Bruder, Schwester und Mutter, die große Mutter gefunden. Leise waren sie herbeigekommen, als die Sterne anzeigten, daß die Hälfte der Nacht vorüber sei. Sie saßen bei ihm, gekrümmt von Schmerz wie er um Inya-he-yukan. Sie verließen Hanska nicht, und er konnte sie nicht verlassen.
    Aber ehe sie mit ihm weiter einen dornigen Weg gingen, sollten sie genauer wissen, wohin der Weg führte.
    »Laßt uns noch einmal beraten«, sagte er, und er saß wieder aufrecht im Kreise der anderen, die Mordwaffe, die Ray ihm gegeben hatte, auf den Knien. »Ich habe kein Tipi mehr. In unserer Prärie wütet ein Häuptling, Mordbruder unserer weißen Feinde. Er ist ein Feigling und tötet nicht selbst. Sonst hätte Joe Inya-he-yukan ihn längst niederschießen können. Er schickt seine Killer des Nachts, auf einsamen Straßen. Er hat…« Hanska stockte. Seine Zunge wollte versagen, aber er nahm sie
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