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Das helle Gesicht

Das helle Gesicht

Titel: Das helle Gesicht
Autoren: Liselotte Welskopf-Henrich
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Kind gewesen, Gespielin des Bruders, Gefährtin seiner Streiche, in der Horde anerkannt, auch den Jungen gewachsen, ohne Furcht unter dem Schutz und Schirm des Vaters. Mit dem gewaltsamen Tode des Vaters und dem Heranwachsen Ite-ska-wihs hatte sich das geändert. Zwar sorgte der Bruder dafür, daß sie an den Karatekursen für indianische Frauen teilnehmen konnte, um sich im äußersten Notfall zu wehren, aber auf der Straße mußte er sich als vaterloser Bruder selbst erst durchsetzen, ehe er Angreifer von seiner Schwester fernhalten konnte. Die Nahrung war sehr karg, seit der Verdienst des Vaters fehlte, die Gefahren wuchsen; Ite-ska-wih verkroch sich in der Kellerecke bei Untschida.
    Es war Nachmittag. Untschida und Ite-ska-wih hatten sich festlich gekleidet und warteten nun auf den Enkel und Bruder, ihren einzigen Ernährer und Beschützer. Mit ihm zusammen wollten sie zu dem Großen Tipi gehen, wo der Tanz der Stadtindianer stattfinden würde. Von einigen wenigen vermögend gewordenen Indianern, zwei Kirchengemeinden, der Stadtgemeinde und drei weißen Gönnern war es für die Stadtindianer als eine Art Klubhaus, als ein Indian-Center, gestiftet worden. Auch städtische Busse stellte die Verwaltung zur Verfügung, um Indianer in Gruppen zu den Veranstaltungen und Indianerkinder zur Schule und zurück zu bringen. Auf diese Weise hatte Ite-ska-wih die Schule besuchen können. Aber den Weg zur Tanzveranstaltung konnte sie nicht wie andere mit dem Bus zurücklegen. Das Haus, in dessen Keller sie mit Bruder und Großmutter wohnte, befand sich in einer Seitengasse der großen, breiten, stinkenden, lärmenden und nicht weniger gefährlichen Straße, in der das Große Tipi stand. Das Große Tipi war in einem älteren, aber geräumigen Gebäude untergekommen, das lange unbenutzt geblieben war und vom Eigentümer für ein Spottgeld vermietet wurde. Spelunken für Brandy und Gogo-Girls bevorzugten niedrige, kleine Lokale.
    Ite-ska-wih brauchte nur um die Ecke zu gehen, um das Große Tipi zu erreichen.
    Ray war noch immer nicht nach Hause gekommen. Er arbeitete in dieser Woche in der Frühschicht und hätte schon längst dasein müssen. Vielleicht war er aber erst zu seiner Gang gelaufen. Die Gang war sein einziger Schutz. Ohne sie wäre er wahrscheinlich auch nicht mehr am Leben, dachten Ite-ska-wih und Untschida. Es gab aber eine Gefahr, von der Ray, wie Ite-ska-wih glaubte, nur mit ihr gesprochen hatte. Die Großmutter wollte er damit sicher nicht ängstigen. Es hatte sich ein neue Gang in die Gegend gezogen; rüde Burschen, alles verkommene Weiße, Ku-Klux-Klan darunter. Sie hatten an die kahlen Wände geschrieben: »We don’t like coloured people« – »wir mögen kein farbiges Volk«. Sie besaßen Sportgewehre und Dynamit, also mußten sie von irgendwoher Geld erhalten. Zu Rays Gang gehörten nur arme Burschen, viele Schwarze und wenige Indianer; um des Überlebens willen hielten sie zusammen. Sie mußten jetzt beraten, wie sie sich gegen ihre neuen Feinde verhalten sollten. Vielleicht war die Beratung auf den heutigen Nachmittag angesetzt, und Ite-ska-wih hatte sich vergeblich auf den Bruder und den Tanz gefreut.
    Die Großmutter nahm den großen Schal um die Schultern, das einzige gute Kleidungsstück, das sie besaß.
    »In einer Stunde gehen wir und warten nicht länger auf Ray. Im Großen Tipi ist auch eine Beratung; ein Häuptling ist gekommen und wird zu uns sprechen. Er kommt aus der Prärie.«
    »Auch« hatte Untschida gesagt. Also wußte sie »auch« von Rays Beratung. Die Großmutter kannte viele Indianer der Stadt, Nachbarn, Freunde, Alte und Junge, die zum Großen Tipi zu kommen pflegten; sie fürchtete sich nicht vor der Straße. Als ihr Sohn, Ite-ska-wihs Vater, an der nahe gelegenen Straßenecke erschlagen worden war und sie ihn des Morgens in seinem Blut liegend gefunden hatten, hatte Untschida nicht gezittert. Ite-ska-wih hatte sie niemals weinen sehen. Untschida haßte. Sie haßte nicht glühend, sie haßte mit einem eingetrockneten, harten, rissigen, nicht mehr auflösbaren Haß.
    »Also, dann gehen wir ohne Ray«, sagte sie nach einer Stunde. »Er wird schon noch kommen. Er weiß, daß es wichtig ist. Ich habe es auch ihm gesagt.«
    Nachdem die Entscheidung gefallen war, gab Ite-ska-wih sich nicht mehr mit besonderen Gedanken und Ängsten ab. Untschida hatte gesprochen, und ein Häuptling der Prärie kam.
    Als Indianerin ging Ite-ska-wih mit Untschida zum Großen Tipi.
    Unterwegs befand sie sich
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