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Das helle Gesicht

Das helle Gesicht

Titel: Das helle Gesicht
Autoren: Liselotte Welskopf-Henrich
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einhüllt und vor der Gier der Feinde schützt, bis dieses Land wieder unser Land sein wird. Wir holen es uns zurück. Ich habe gesprochen.«
    Hanska war aufgestanden und hob die Hände zu dem Himmel über der Prärie, an dem die Sterne aufzuglänzen begannen und der Mond seine dünne goldschimmernde Sichel zeigte. Ray, Ite-ska-wih und Untschida standen bei ihm. Zu ihren Füßen lag der Tote. Ihre Lippen murmelten das Gelöbnis Hanskas, das das Vermächtnis Inya-he-yukans war.
     
    In dieser Nacht drangen sie in die Schwarzen Berge ein.
    Straßen durchschnitten Wald und Fels und legten sich wie Fesseln um die Berge, die der Zivilisation nicht entkommen sollten. Die Fahrbahnen waren jetzt leer; kaum ein Wagen begegnete dem Jaguar, und keiner überholte ihn. Hanska fuhr nicht in das Naturschutzgebiet ein, sondern parkte an einer Ausweichstelle der offenen Straße, die am Berg hinaufführte.
    »Von hier ab gehen wir.«
    Hanska und Ray trugen den Toten. Die beiden Frauen folgten.
    Die Gruppe befand sich schon hoch am Berg. Die Waldhänge waren steil, von rissigen Felsen durchzogen, durch die Tannennadeln auf dem Boden glitschig; Moos und Erde waren weich und feucht. Die Gruppe begegnete den in der Dunkelheit hell schimmernden Schneeflecken, die sich bis in den März hinein hielten.
    Ite-ska-wih keuchte. Die Anstrengung des Aufwärtssteigens hatte sie noch nie kennengelernt. Ihre Knie zitterten, ihr Herz schlug gegen die Rippen. Aber sie sagte kein Wort. Vielleicht war ihr die Anspannung nicht einmal bewußt. Bewußt war ihr, daß sie Hanska und dem toten Inya-he-yukan folgen durfte. Bewußt war ihr der letzte Blick des Sterbenden. Je mehr sich die Zeit und der beginnende Verfall des Körpers zwischen die Todesstunde Stonehorns und das unmittelbar drängende Geschehen legte, je weiter sich Fleisch und Blut des Ermordeten, das zum geheimen Grabe getragen wurde, aus der Wirklichkeit entfernten, desto machtvoller wirkte sein Geist, der im Gedächtnis an die überwältigende geheimnisvolle Kraft seiner Augen lebendig blieb.
    Vor den Wandernden tat sich ein kleines Tal auf, das ihren Weg durchschnitt. Sie hörten schon das Plätschern des Gebirgsbaches, der es sich gegraben hatte. Da erst spürte Ite-ska-wih, daß die Zunge ihr wie vertrocknet am Gaumen klebte und der ganze Mund ihr quälend weh tat. Sie hatten es vermieden, unterwegs eine Raststätte aufzusuchen; das Wasser aus der Feldflasche war eine sehr geringe Labung gewesen. Das Mädchen lief nicht mehr, es rutschte den kurzen Hang hinunter, legte sich an das Ufer und tauchte das Gesicht in das Wasser, netzte den Nacken mit Wasser und trank. Unnennbare Wonne war es für die Durstende, Wasser zu trinken, das ungetrübt wie Kristall aus der Quelle kam, quirlendes, brandlöschendes Wasser. Sie kühlte auch die Hände darin, obgleich die Märznacht kalt genug war. Aber ihr war heiß.
    Die Wandernden setzten ihren Weg fort.
    Die Stelle, an der Hanska halt machte, war voller Einsamkeit und Menschenferne; Ite-ska-wih spürte sie im Wind, im Seufzen der sich beugenden Wipfel, im Schrei eines Vogels, im verborgenen Rascheln am Boden und in dem verwehten Rauschen des Baches, der über einen Felshang stürzte.
    Ein verwitterter Felsbrocken war Hanskas Ziel. Er hielt an und legte mit Ray zusammen den toten Inya-he-yukan auf den Moosboden. Dann trat er zu dem abgebrochenen Felsen, lehnte sich halb daran und strich darüber wie über den Rücken eines alten stummen Freundes.
    »Du wirst Inya-he-yukan bewachen«, sagte er.
    Die Morgenhelle drang in die Nacht ein. Nebel wurden licht, die Nadeln der Bäume, das Polster des Mooses gewannen ihr Grün, der Wind stürmte scharf und sehr kalt. Vögel flatterten auf.
    Hanska arbeitete mit Ray an einem kleineren Stein, der halb unter dem gewaltigen Felsbrocken verborgen, halb in die Erde eingewachsen war. Es dauerte lange, bis sie ihn herausheben konnten. Eine dunkle Höhlung gähnte ihnen entgegen.
    Hanska nestelte seine Pfeife los, entzündete sie, rauchte sie an und bot dem Großen Geheimnis mit gemessener Würde die sechs Züge, dem Himmel und der Erde und allen vier Winden. Es war die Weihe für den Toten.
    Dann wandte er sich der Höhlung zu, die nur Dunkelheit zeigte. Nichts war darin zu erkennen.
    »Das«, erklärte er seinen Begleitern, »ist der verborgene Eingang. Die Höhle geht durch den ganzen Berg, vielfach verästelt wie ein mehrzweigiger Baum. Den unteren Eingang kannten unsere Vorfahren, und die weißen Männer kennen ihn
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