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Das Hausbuch der Legenden

Das Hausbuch der Legenden

Titel: Das Hausbuch der Legenden
Autoren: Georg Adolf Narciss
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Säule und zerhackte die Zeder so lange, bis der Schrein mit den Überresten des Osiris zum Vorschein kam. Jammernd warf sie sich über den Sarg. Sie klagte und weinte so sehr, daß der jüngste Sohn des Königs ohnmächtig wurde. Den ältesten Sohn nahm sie mit. Sie lud den Schrein auf ein Schiff und segelte davon. Als der Fluß bei Tagesanbruch einen Sturm entfesselte, geriet sie in Zorn und ließ den Fluß versiegen.
    Als Isis endlich allein war, öffnete sie den Schrein. Sie küßte das Gesicht des Osiris, sie schmiegte ihre Wange an die des Toten und weinte sehr. Der Knabe Anubis kam lautlos von hinten und sah die Tränen der Göttin. Erzürnt drehte Isis sich um und warf ihm einen schrecklichen, einen vernichtenden Blick zu, der ihre ganze Angst trug. Das Kind konnte diesen Blick nicht aushalten und starb.
    Nun machte Isis sich auf, um ihren Sohn Horus zu suchen.
    Sie ließ den Schrein mit der Leiche des Osiris zurück. Set fand den sorgsam versteckten Sarg, ohne ihn zu suchen, als er nachts im Mondschein jagte. Er zerriß die Leiche seines Bruders in vierzehn Teile und verstreute sie über das ganze Land. In einem Papyrusnachen fuhr Isis durch die Sümpfe, um die vierzehn Teile wieder zu finden. Aus Ehrfurcht vor der Göttin griffen die Krokodile den Papyruskahn nicht an. Isis fand alle Teile des Leichnams und begrub sie jeweils an Ort und Stelle. Aus diesem Grund gibt es in Ägypten so viele Osirisgräber. Isis ließ auch Nachbildungen der Leiche anfertigen und in verschiedene Städte bringen, um Set auf der Suche nach dem wirklichen Grab in die Irre zu führen, und um auf diese Weise den Osiriskult an vielen Orten zu begründen.
    Als Horus über die Mutterjahre hinausgewachsen war, kam Osiris aus der Unterwelt, um ihn im Kampf zu üben. Er fragte den Sohn, welche Lebensaufgabe er sich stelle. Horus antwortete: »Das Unrecht rächen, das meiner Mutter und meinem Vater widerfahren ist.« Daraufhin fragte Osiris weiter, welches Tier sich für diesen Kampf am besten eigne. Zu seinem Erstaunen nannte Horus das Pferd. Osiris wollte wissen, warum er nicht den Löwen wähle. Da erwiderte Horus:
    »Der Löwe mag für den Menschen nützlich sein, wenn er einen Feind abwehren muß. Wer den Feind verfolgen will, nimmt besser ein Pferd.« Nun wußte Osiris, daß sein Sohn für den Kampf gerüstet war. Mit der Zeit schlugen sich immer mehr Leute auf die Seite des Horus.
    Der Kampf zwischen Set und Horus dauerte viele Tage.
    Zuletzt siegte Horus. Er ließ Set fesseln und seiner königlichen Mutter Isis ausliefern. Sie tötete ihn aber nicht. Sie ließ ihm vielmehr die Fesseln abnehmen und schickte ihn fort. Da konnte sich Horus nicht mehr beherrschen. Er legte Hand an seine Mutter und riß ihr die Krone vom Kopf. Toth setzte ihr dafür einen Helm mit einem Rinderkopf auf. Set zog die Sache vor Gericht und warf Horus vor, daß er unehelich geboren sei.
    Toth setzte aber einen Spruch der Götter durch, nach welchem sie ihn als legitimen Sohn des Osiris anerkannten. In zwei weiteren Kämpfen wurde Set von Horus endgültig geschlagen.

    Der Herr über Geburt und Tod

    ES WAR vor langer Zeit. Alles sah anders aus als heute. Doch die Erde war rund, und die Sonne schien, und der Mond und die Sterne schienen. Auch die Menschen waren da, sie wurden geboren und starben. Aber alles war anders als heute, und zwar deshalb, weil ein Jüngling über die Erde ging, dem alle gehorchen mußten. Sogar die Könige. Denn der junge Herr duldete keinen Widerspruch. Sein Stolz war so groß wie seine Schönheit, und seine Augen leuchteten wie Diamanten und waren so hart wie sie. Er sprach nur wenig, und auch seine Worte waren wie Diamanten. Jeden Menschen besuchte er, jeder mußte ihm wenigstens zweimal begegnen. Die Erde war eine ebenso große Kugel wie heute, aber für ihn schien es keine Entfernungen zu geben. Niemand wußte, wie er es machte. Und niemand fragte, wie es geschehen konnte, daß er gleichzeitig Tausende von Menschen in tausend verschiedenen Gegenden aufsuchen konnte.
    Er trat in die Häuser der jungen Eheleute und sagte zu ihnen:
    »Bald werdet ihr ein Kind bekommen. Haltet euch bereit und macht eine Wiege fertig. Wenn es an der Zeit ist, werde ich eine Seele bringen.«
    Keiner wunderte sich darüber, daß man nie sah, wann er die Seele brachte, denn die Seele kann man nicht sehen. Und er trat in die Häuser der alten Menschen und sagte zu ihnen:
    »Bald werdet ihr sterben. Haltet euch bereit und macht den Sarg fertig. Wenn es an
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