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Das Hausbuch der Legenden

Das Hausbuch der Legenden

Titel: Das Hausbuch der Legenden
Autoren: Georg Adolf Narciss
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der Zeit ist, werde ich eure Seelen holen.«
    Keiner sah, wie er die Seele holte, denn die Seele kann man nicht sehen.
    Man nannte ihn den Herrn über Geburt und Tod. Er war jung und schön und tat so, als ob die Erde nur ihm gehöre. Immer kam er allein. Einige Menschen aber erzählten, daß ihm zuweilen eine andere Gestalt, einem Schatten ähnlich, von weitem folge. Niemand wagte, ihn anzusprechen, denn er war so stolz, daß er nur auf seine eigenen Worte zu hören schien; und was hätten die Menschen auch dem Herrn über Geburt und Tod sagen können?
    Und doch geschah eines Tages etwas, das die ganze Welt veränderte und zu dem machte, was sie heute ist. Hoch oben im Norden lebte ein Lappe. Er war so weise, daß sogar Könige von weit her kamen, um sich Rat von ihm zu holen. Er selber war arm und wohnte allein in einer Hütte am Rande der großen Tundra. Nun wurde erzählt, daß er krank geworden sei und den Besuch des Jünglings erwarte, da er glaube, bald sterben zu müssen. Eines Tages wurde an seine Tür geklopft. Er öffnete, und vor ihm stand jene Gestalt, die einem Schatten glich und die zuweilen dem Herrn über Geburt und Tod in großem Abstand folgte.
    »Morgen wird der junge Herr zu dir kommen«, sagte die Schattengestalt und verneigte sich. »Kurz danach wird die Welt die weiseste Seele verloren haben. Die Könige werden ihren eigenen Entscheidungen folgen müssen, und das wird ihren Untertanen wenig Freude bringen.«
    »Ich bin sehr alt«, sagte der Lappe, »und kann dem Tod nicht entgehen.«
    »Du kannst«, sagte die schattengleiche Gestalt und lächelte.
    Es war ein schreckliches Lächeln, die Zähne sahen schärfer und grimmiger aus als die eines hungrigen Wolfes. »Ich glaube, ich weiß, wer du bist«, sagte der alte Lappe, »obwohl ich dich noch nie gesehen habe. Ich glaube, ich weiß, wie du heißt. Du hast einen Namen, vor dem sich nur die bösen Menschen beugen.«
    »Wie ich heiße«, sagte der Schatten, »hat wenig Bedeutung für dich. Viel wichtiger ist, was ich für dich tun kann.«
    »Und was kannst du für mich tun?«
    »Ich habe es dir schon gesagt: ich kann dich für immer vom Tode befreien.«
    Der Lappe, der das Leben liebte, schwieg eine Weile. Das war ermutigend für den Schatten. Er näherte sich dem Alten und flüsterte ihm beschwörend ins Ohr.

    »Und nun«, sagte er dann lauter, »werde ich dir helfen, deinen Sarg zu bauen. Wir müssen uns beeilen, damit er fertig ist, wenn der junge Herr morgen zu dir kommt. Bist du einverstanden?«
    »Ja«, sagte der Lappe zögernd, »aber ich fürchte, mein Gewissen wird nicht einverstanden sein.«
    »Man braucht kein Gewissen«, sagte der Schatten, »wenn man unsterblich ist. Auch ich habe keines nötig«, fügte er hinzu, und seine Zähne blitzten hart und scharf, »denn seit Tausenden von Jahren besitze ich das ewige Leben.«
    Am nächsten Morgen klopfte es nicht an die Tür, bevor der schöne junge Herr eintrat. Er verbeugte sich nicht vor dem alten Lappen. Er sah ihm gerade in die Augen und sagte: »In zwei Wochen werde ich kommen und deine Seele vom Körper lösen. Halte dich bereit und mache deinen Sarg fertig.«
    Lächelnd sagte der alte Mann: »Der Sarg ist schon fertig.« Der Herr über Geburt und Tod war sehr erstaunt. Nie hatte je ein Mensch gewagt, zu ihm zu sprechen, und nie hatte je ein Mensch gelächelt, wenn er kam, ihm den Tod anzukündigen.
    Aber der Ruhm des alten Lappen war dem Jüngling bekannt.
    Da er also wußte, daß der Greis in dem Rufe großer Weisheit stand, ließ sich der junge Herr – der nur scheinbar jung war, denn niemand hätte je seine Jahre zählen können – zu einem Gespräch herab.
    »Du scheinst keine Angst vor dem Tode zu haben«, sagte er.
    »Warum sollte ich Angst vor dem Tode haben?« erwiderte der Alte. »Ich habe lange genug gelebt. Meine Seele sehnt sich danach, neue Länder kennenzulernen. Erlaube mir, dir meinen Sarg zu zeigen. Ich finde ihn sehr schön, aber ich möchte wissen, ob er dir auch gefällt.«
    ›Der Alte ist recht eingebildet‹, dachte der Herr über Geburt und Tod, ›aber warum soll ich ihm nicht den Gefallen tun?‹
    »Gut, zeig ihn mir!« sagte er deshalb.
    Der alte Mann brachte den Sarg herbei und stellte ihn zu Füßen des edlen Besuchers nieder. Der junge Herr hatte viel schönere Särge gesehen, aber er sagte: »Der scheint mir ganz recht zu sein.«
    »Das freut mich«, sagte der Alte, »aber ich wäre sehr dankbar, wenn du mir noch einen Gefallen tun würdest. Ich
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