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Das Hausbuch der Legenden

Das Hausbuch der Legenden

Titel: Das Hausbuch der Legenden
Autoren: Georg Adolf Narciss
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möchte wissen, ob er bequem genug ist. Du bist genauso groß wie ich. Wenn du dich in den Sarg legen würdest, könntest du mir sagen, ob ich ihn schön und wohl bereitet habe.« Der junge Herr war eitel, und so war ihm die Eitelkeit der anderen weder fremd noch abstoßend.
    »Warum nicht?« sagte er und streckte sich in dem Sarg aus.
    Schneller als man es denken konnte, war der Deckel
    zugeworfen und waren Nägel hineingeschlagen, die ihn so fest verschlossen, daß keine Macht ihn öffnen konnte.
    »Das hast du gut gemacht«, sagte eine Stimme. Die
    schattenähnliche Gestalt stand plötzlich neben dem Alten.
    »Nun wollen wir beide den Sarg weit hinaus in die Tundra tragen.« Der Herr über Geburt und Tod war zu stolz, um zu schreien und um Hilfe zu rufen. Er schwieg und ließ es geschehen, daß er weit draußen in der Tundra, dort, wo es nur wilde Tiere und Raubvögel gibt, begraben wurde.
    »Hier wird kein Mensch ihn finden«, sagte der düstere Geselle und rieb sich vor Vergnügen die Hände. »Ich hatte Streit mit Gott, und er gab mir die Hölle zur Wohnung.
    Manchmal komme ich auf die Erde und versuche, Seelen für mich zu erobern, damit ich Gesellschaft habe. Immer war es bisher vergeblich. Jetzt aber wird auch Gott keine Seelen mehr von der Erde bekommen und ebenso keine zur Erde schicken können.« Der alte Mann kehrte zu seiner Hütte zurück und lächelte zum Mond hinauf, aber der Mond antwortete nicht.
    Der Alte blickte in den Spiegel und dachte: ›Wie werde ich wohl in dreihundert Jahren aussehen?‹ Da wurde ihm angst, und sein Gewissen begann sich zu regen.
    Es verging eine lange Zeit. Auf der Erde wurde kein Mensch geboren, und kein Mensch starb. Im Himmel wurde eine große Versammlung berufen. Die hohen Herren kamen herbei, und der Höchste von allen sprach:
    »Gott hat mich gebeten, euch alle zusammenzurufen, denn er ist unzufrieden mit dem, was auf der Erde geschieht. Über die anderen Planeten haben wir uns nicht zu beklagen. Es geht dort alles seinen rechten Gang. Es wird geboren und gestorben in guter Ordnung. Ganz anders aber ist es auf dem Planeten Erde.
    Es wird keine Seele mehr dorthin gebracht und keine mehr von dort zu uns geschickt. Und das alles, weil der Herr über Geburt und Tod nirgends zu sehen ist. Er, der sich wegen seiner großen Schönheit so gern überall zeigte, geht nicht mehr über die Erde. Er vernachlässigt seine Pflicht. Es ist, als ob es ihn überhaupt nicht mehr gäbe. Deshalb müssen wir einen von uns auf diese merkwürdige Kugel niedersenden mit dem Auftrag, den unfolgsamen jungen Herrn zu suchen und ihn
    hierherzubringen.«
    So wurde einer von ihnen auf die Erde geschickt, einer, dessen Namen niemand weiß, weil die Herren des Himmels gewohnt sind, sich in Geheimnis zu hüllen. Was der hohe Herr auf der Erde fand, war sehr traurig: Die Ehepaare waren verzweifelt, denn sie bekamen keine Kinder und warteten vergeblich darauf, daß der Herr der Geburt sie besuche. Die Alten waren fast noch verzweifelter, denn sie lagen matt und krank im Bett. Ihre Stimme hatte den Klang verloren, weil sie viel zu lange gesprochen hatte. Ihre Augen sahen nichts mehr, weil sie viel zu lange gesehen hatten. Sie hungerten nach der Befreiung ihrer Seele und warteten vergeblich darauf, daß der Herr des Todes sie besuche. Es herrschte eine große
    Unordnung und dazu viel Furcht, weil die Angst vor der Unsterblichkeit viel größer war als die Angst vor dem Tode.
    Endlich fand der hohe Herr den alten Lappen, von dem man ihm erzählt hatte, daß er der letzte gewesen sei, den der schöne junge Herr besucht hatte. Der Greis war vom Alter zerfressen, und sein Gewissen hatte viel schärfere Nägel als jene, mit denen er den Sarg verschlossen hatte. Aber er konnte seinem Gewissen nicht nachgeben, denn die dunkle Schattengestalt war immer um ihn, damit er niemandem verriet, wo der Sarg mit dem schönen jungen Herrn begraben lag. Als aber der düstere Geselle den hohen Herrn des Himmels sich nähern sah, floh er mit einem Geheul des Entsetzens aus der Hütte.
    Der alte Lappe, dessen Stimme keinen Klang mehr hatte, der nur noch flüstern konnte, erzählte nun alles, was geschehen war, und der hohe Herr ging hinaus in die Tundra, fand den Sarg und öffnete ihn. Der junge Herr hatte nichts von seiner Schönheit verloren und blickte seinen Befreier mit strahlenden Augen an. Aber er wurde keines Wortes gewürdigt. Nur eine Hand legte der andere auf seine Schulter, und dann erhoben sich beide und stiegen
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