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Das Hausbuch der Legenden

Das Hausbuch der Legenden

Titel: Das Hausbuch der Legenden
Autoren: Georg Adolf Narciss
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Bischofs Paulinus mit der Glockenblume.
    Ebenso bemächtigt sich die Legende auch historischer Gestalten und Ereignisse: das Rosenwunder der heiligen Elisabeth bezeugt die tiefe Wahrheit ihrer von Gott gesegneten Barmherzigkeit. Die eiserne Krone von Monza erhebt sich mit ihrem schlichten Reif über die weit prächtigere Kaiserkrone, denn sie umschließt einen Nagel vom Kreuze Christi.
    Erschütternd fügt sich zu dem Untergang des christlichen Byzanz die Legende des in der Hagia Sophia immer wieder unter der Übermalung islamischer Hände durchbrechenden Kreuzes. Die Legende beschränkt sich eben nicht nur auf den rein religiösen Raum, sie bezieht vielmehr in die jenseitige Bestrahlung auch das profane Leben ein. Das bedeutet: überall, wo im Staub und Strudel der rein weltlichen Geschehnisse ein letzter Sinn verwirklicht wird, da offenbart die Legende das Geheimnis des Jenseitigen, auf dem der tiefere, ja zuletzt der alleinige Sinn und Wert unserer irdischen Belange ruht. Der gläubige Anruf der Heiligen, das Vertrauen auf die tiefe Wahrheit der Legende enthebt uns der Relativität unseres irdischen Seins und überstrahlt uns durch die Gewißheit einer ewigen Heimat.
    Die jüdische Legende, die uns schon durch das Alte
    Testament vertraut ist, lebt ebenfalls aus dem Licht des Glaubens, wie uns die von Martin Buber nacherzählten Legenden des Baalschem und der Chassidim und andere
    jüdische Legenden beweisen. Auch bei den Juden wird die Kreatur und das ganze menschliche Leben von der Legende überstrahlt.
    Ebenso kennt der Islam die Legende. In seiner frommen Verehrung stehen Moses, Christus und Muhammed
    beieinander. Jescha, wie Jesus bei den Orientalen heißt, bringt Verschmachtenden in der Wüste Kühlung und Wasser.
    Zahlreiche Legenden schmiegen sich um seine milde Gestalt, Zeugnis ablegend dafür, daß der irdische Sinn nicht der letzte ist. Wo immer um das Mysterium des Seins gerungen wird –
    sei es auch in dem uns geheimnisvoll fremden Buddhismus –, da wird die Legende eine Heimat haben, als Zeichen dafür, daß unserer irdischen Wirklichkeit noch eine andere zugeordnet ist.
    – Die Wunder der Legende recht verstanden bedeuten unsere ewige Verheißung. –
    Gertrud von le Fort

    Legenden aus dem
    außerchristlichen Bereich

    Alte Kultlegenden

    Ischtars Fahrt in das Land ohne Wiederkehr

    ISCHTAR, DIE Herrin der Götter, die große Töpferin, die alle Menschen schuf, Göttin der Fruchtbarkeit und der Liebe, machte sich auf zu einer schweren Reise. Die helle Tochter des Mondes stieg hinab in die finstere Welt der Toten, in das Land ohne Wiederkehr. Lehm war die einzige Nahrung der toten Geister. Dicker Staub lag auf den Türen und Riegeln, die den finsteren und trostlosen Ort gegen alle Eindringlinge sicherten.
    Als sie an das äußerste Tor kam, rief sie mit lauter Stimme dem Pförtner zu! »He! öffne dein Tor, damit ich eintreten kann. Ich bin Ischtar, die Herrin der Götter. Verweigerst du mir den Eintritt, dann hebe ich die Torflügel aus den Angeln, dann zerbreche ich die Riegel, dann hole ich die Toten wieder ans Licht und lasse sie die Erde bevölkern und die Lebenden quälen, bis nur noch Tote sind!«
    Namtar, der Pförtner des Totenreiches, aber antwortete ihr:
    »Halt ein mit deinem Zorn, Herrin! Schone unser Tor! Laß mich erst zu meiner Herrin gehen, zu deiner dunklen
    Schwester Ereschkigal, um ihr deine Ankunft zu melden!«
    Und Namtar trat vor Ereschkigal und brachte ihr die Nachricht mit den Worten: »Deine lichte Schwester Ischtar steht vor dem Tor und begehrt Einlaß; sie, die nur ausgelassene Feste der Freude kennt und die Fluten des Meeres aufwühlt.«
    Ereschkigal verfärbte sich, als sie die Botschaft hörte; ihr Gesicht wurde fahl und welk, ihre Lippen wurden schwarz.
    Mit Mühe unterdrückte sie ihren Zorn und rief: »Namtar, was will sie in diesem Land der Tiefe? Trübes Wasser trinke ich hier mit den Toten, Lehm esse ich mit ihnen, und meine Trauer über alle, die hierher kommen, findet kein Ende. Hier gibt es nichts, was ein lebendiges Herz erfreuen könnte. Geh und öffne der Schwester das Tor! Aber auch sie muß sich an die alten Gesetze dieser unteren Welt halten!«
    Da kehrte der Pförtner zurück zu seinem Tor, schloß es auf und begrüßte Ischtar mit den Worten: »Tritt ein Herrin! Die Unterwelt freut sich über dein Kommen.« Weit öffnete er die verstaubten Flügel des Tores und ließ sie ein. Dann nahm er ihr das Kopftuch ab, mit dem sie ihr Haupt verhüllt hatte.
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