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- Das Haus der kalten Herzen

- Das Haus der kalten Herzen

Titel: - Das Haus der kalten Herzen
Autoren: Sarah Singleton
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Die endlosen Winternächte erstreckten sich hinter ihr wie eine Art Wachtraum. Sie war durch diese Nächte gegangen wie eine Schlafwandlerin. Irgendetwas hatte ihr nun den Anstoß gegeben, den vergessenen Teich aufzusuchen. Das Muster, nach dem die Tage abliefen, war durchbrochen worden.
    Am Abend wachte Mercy auf. Anders als sonst zog sie die Vorhänge zurück. Wie eine Untertasse wölbte sich die Mondsichel über den Bäumen. Mercy zog ihr Nachthemd aus. An dem Knie, auf das sie gefallen war, prangte ein blauer Fleck wie lila und rote Blüten auf ihrer weißen Haut. Sie war sehr dünn, die Arme glichen Spazierstöcken aus Elfenbein, doch ihr Haar hatte eine kräftige schwarze Farbe und war lang, es reichte ihr bis zur Taille. Ein Gewand, in dem sie sich verstecken konnte.
    Sie zog ihre Unterkleider an, schnürte das Korsett und schlüpfte in das rosa Kleid. Die weiche Seide runzelte sich wie vertrocknete Rosenblüten.
    Charity saß am Tisch im alten Spielzimmer. Sie spielte mit einem angelaufenen silbernen Eierbecher. Drei weiche Weißbrotstreifen lagen auf einem mit blauen Rosen bemalten Teller. Einen der Brotstreifen tunkte sie in das Eigelb und biss ab. Dann legte sie das Brot wieder auf den Teller.
    »Mehr kannst du nicht essen?«, fragte Mercy. Sie setzte sich ans andere Ende des Tisches. Der größte Teil des geräumigen Hauses war dem Staub und den Mäusen überlassen worden, aber hier knisterten Zedernholzscheite im Kamin.
    Charity zuckte die Achseln. »Nun, du hast ja noch gar nichts gegessen«, sagte sie.
    Charity, ein zerbrechliches Püppchen, war in einen weiten weinroten Morgenmantel gehüllt, seine Ärmel waren aufgekrempelt. Sie hatte langes Haar, üppige Locken, in der Farbe von Butter und Honig. Doch ihr Gesicht war schmal und ausgemergelt und die blauen Augen wirkten viel zu groß.
    »Etwas passiert«, sagte Charity. Sie lehnte sich in ihrem Stuhl zurück.
    »Was denn?«
    »So genau weiß ich das nicht. Es hat was mit dir zu tun und dem Geist von einem Mädchen im Teich. Ich habe gehört, wie Aurelia mit Vater und Galatea darüber gesprochen hat, eben, vor dem Frühstück. Sie haben gesagt, dass etwas passiert.«
    »Was meinst du damit, Charity? Nichts passiert. Was könnte denn passieren?«
    Die Gouvernante Galatea war eine Respekt einflößende Erscheinung und Mercy fürchtete ihren Unmut. Außerdem machte sie sich Gedanken über ihren Vater. Sie hatte ihn schon lange nicht mehr gesehen. Sie wusste, dass er stets in der Nähe war, wahrscheinlich arbeitete er in seinem Studierzimmer, aber in ihrem normalen Tagesablauf kam er nicht vor. Er lebte zurückgezogen und blieb im Hintergrund.
    »Er klang besorgt«, sagte Charity. »Was hast du gemacht? Aurelia hat auch über dich geredet.«
    »Ich weiß nicht«, wiederholte Mercy. »Was genau haben sie denn gesagt?«
    Warum so ein Aufstand? Sie waren es doch gewohnt, dass sie Geister sah. Aber keinen neuen Geist, nein, das nicht. Das gab Anlass zur Sorge. Sie spürte es, es war ein Frösteln, vom Kopf bis in die Fußsohlen.
    Charity, eine geschickte Lauscherin, hob die Augenbrauen und grinste selbstzufrieden. Sie war nervtötend. Sie machte den Mund auf, um etwas zu sagen, aber da rückte Aurelia an, mit Tablett und Teeservice, das ebenfalls mit blauen Rosen verziert war. Toastscheiben waren auf einem Teller arrangiert. Sie begrüßte Mercy und schenkte jedem der Mädchen eine Tasse Jasmintee ein. Dann drehte sie sich um und schürte das Feuer, während Charity den Dampf anstarrte, der sich aus ihrer Tasse kräuselte.
    »Wart ab, du wirst schon sehen«, flüsterte Charity und schaute zu Mercy hoch. »Ist alles deine Schuld.« Sie nahm einen Löffel und klopfte damit rhythmisch auf das Ei. Da war es wieder, dieses durchtriebene Lächeln. Mercy tat, als wäre es ihr gleichgültig, nahm sich eine Scheibe warmen Toast und biss ab. Warum musste Charity bloß immer so tun, als wüsste sie alles?
    Charity griff sich die andere Scheibe, nahm einen kleinen Bissen und legte sie wieder auf den Teller zurück.

    Später warteten die Mädchen mit ihren Büchern in der Bibliothek auf Galatea und den Unterricht. Ohne ein Feuer im Kamin war der Raum sehr kalt. Mercy wurde unruhig, sie machte sich auf irgendwelche Vorwürfe von der Gouvernante gefasst. Die Tür ging auf.
    »Vater!« Mercy sprang auf. Trajan stand in der Tür. Sie hatte ihn so lange nicht gesehen.
    Charity schaute auf und schenkte ihm ein gewinnendes Lächeln.
    »Guten Morgen, ihr zwei«, sagte er
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