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- Das Haus der kalten Herzen

- Das Haus der kalten Herzen

Titel: - Das Haus der kalten Herzen
Autoren: Sarah Singleton
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die Mädchen englische Namen ausgesucht, weil sie sich nicht fremd fühlen sollten. Diese Erwägung wirkte auf sie inzwischen ein wenig merkwürdig.
    Die Tochter des Zauberers stand hoch oben auf einem Balkon über dem Schnee. Die Seite hatte einen Goldrand. Mercy grübelte, während sie mit dem Finger über das Bild strich. Die Vergangenheit war so weit weg. Heute war alles so seltsam gewesen. Immer war der Winter weitergegangen. Die Wochen vergingen im Flug, eine wie die andere, aber jetzt änderte sich alles. Ein Spaziergang, ein Geist, ein Vater.
    Kurz vor Tagesanbruch half Aurelia ihr beim Ausziehen und Mercy schlief ein. Sie schlief, bis Centurys verkehrter Morgen anbrach und Aurelia sie wieder weckte.
    »Mercy, Liebes, steh auf«, sagte Aurelia. »Komm schon. Galatea möchte heute früh anfangen.«
    Mercy streckte die Beine aus dem Bett und schüttelte sich das Haar aus dem Gesicht. Ihr Kopf war schwer von Träumen, in denen sie strahlendere Orte gesehen hatte. Sie zog sich an und frühstückte gemeinsam mit Charity das gekochte Ei und den Toast. Sie brachte ihre Tasse in die Küche, wo Aurelia Brot backte. Mercy schaute sich um, sie sah die Sträuße getrockneter Kräuter an den Deckenbalken hängen. Die Kupfertöpfe glänzten. In dem Küchenschrank mit den Glastüren stapelte sich das prächtige Tafelservice, das jetzt nicht mehr benutzt wurde. Der bekannte Raum wirkte seltsam neu auf sie – möglicherweise auch nur, weil sie sich Zeit nahm, ihn zu betrachten. Wann hatte sie aufgehört, Dinge zu bemerken?
    Galatea holte sie wenig später ab. Charity spielte ihre übliche Rolle und war die fleißige Schülerin. Sie lernten lateinische Verben, die Gouvernante wies Mercy auf jeden Fehler hin und ließ sie die Konjugationen ein ums andere Mal wiederholen. Später, als Mercy zu ihrem üblichen Spaziergang im Garten aufbrechen wollte, beschloss Galatea, dass sie alle gemeinsam gehen würden. Charity stöhnte, doch Mercy war entsetzt.
    »Ich will allein gehen – das mache ich immer so«, sagte Mercy. »Ihr könnt nicht mitkommen.«
    »Du darfst nicht allein sein«, sagte Galatea energisch. »Ich folge den Anweisungen deines Vaters. Er hat gesagt, ich solle dich begleiten.«
    Mercy wurde schwer ums Herz. Der einsame Spaziergang in der Kälte bei Mondschein war ihre allergrößte Freude. Galatea würde das Vergnügen zerstören. Mercy schob die Unterlippe vor und schluckte ihre Verbitterung hinunter.
    Draußen waren die Felder mit Reif bedeckt, also packten sie sich warm ein – in Fellhandschuhe, schwere Mäntel und Mützen.
    »Kommt«, sagte Galatea. Sie gingen durch die Küche nach draußen und weiter in die Nacht. Mondlicht glitzerte auf dem gefrorenen Gras. Der grelle Schein brannte auf Mercys Gesicht. Wie kalt das war – selbst warm eingemummelt. Charity griff nach der Hand ihrer Schwester.
    Gemeinsam gingen sie durch den Rosengarten und über den oberen Teil der Wiese. Dann führte Galatea sie durch einen Torbogen und einen kleinen Weg entlang, auf die winzige Kirche auf dem Hügel zu. Gleich dahinter lag der Wald. Mercy hatte vergessen, dass es diese Kirche gab. Die Familienkapelle. Wie still es hier war. Ab und zu regte sich ein Tier im Unterholz, das von dem Knirschen dreier Paar Stiefel aufgestört worden war.
    »So, Mädchen«, sagte Galatea. »Ich finde, wir sollten nach dem Unterricht immer zusammen spazieren gehen. Bewegung an der frischen Luft ist gesund für euch beide. Zum Zeichnen ist es zu kalt, aber ich möchte, dass ihr euch beide die Kirche genau anseht, damit wir sie bei unserer Rückkehr ins Haus auf dem Papier wiedererstehen lassen können. Ihr dürft die Ansicht wählen, die euch am besten gefällt.«
    Sie trug weiche Lederhandschuhe und einen Fuchspelz um die Schultern. Das Fuchsgesicht war noch intakt, die bernsteinfarbenen Augen schauten traurig drein. Charity lächelte die Gouvernante an und sprang sofort davon, zur Südseite, wo sie die gedrungenen Eiben und die Türme studierte. Mercy, die Zeichnen verabscheute, folgte ihrer Schwester nur zögerlich. Eine Eule glitt aus einer Nische in der Wand der Kapelle – wie ein Geist. Geräuschlos ließ sich der Vogel aus dem Nachthimmel fallen und stieg dann wieder über die Bäume auf.
    Mercy folgte ihm durch die Schatten unter den Eiben und an einem einzelnen Grabstein vorbei. Hinter der Kirche ragten die Bäume dick und schwarz auf. Doch ein Licht fiel ihr auf, ein warmes Flackern im Ostfenster der Kapelle. Eine Flamme hinter dem
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