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- Das Haus der kalten Herzen

- Das Haus der kalten Herzen

Titel: - Das Haus der kalten Herzen
Autoren: Sarah Singleton
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man jederzeit aufgeben konnte, wenn man sich nur zusammenriss. Doch so war es für sie nicht!
    »Hattest du Angst?«, fragte Aurelia.
    »Angst eigentlich nicht. Es ist … als würde einem jemand einen kalten Fisch hinten ins Kleid stecken. Oder als müsste man plötzlich niesen. Man kriegt einen Schreck.«
    »Ach was«, sagte Aurelia. »So kurz vor Tagesanbruch solltest du nicht draußen sein. Du gehst doch sonst nicht auf die Wiese! Was hast du dir nur dabei gedacht? Du bist doch gar nicht kräftig genug, um so weit zu laufen. Warum bist du nicht im Garten geblieben? Vielleicht bildest du dir das alles nur ein.«
    Mercy runzelte die Stirn. Sie wusste, was sie gesehen hatte. Und was hatte sie dazu verleitet, einen anderen Weg einzuschlagen? Schließlich war sie schon lange nicht mehr spazieren gegangen. Monatelang? Oder wie lange war es her? Schwer zu sagen. In dem großen Haus war jeder Tag wie der andere. Sie stand nach Sonnenuntergang auf für die lange Winternacht, die nun folgte. Sie frühstückte mit ihrer jüngeren Schwester Charity, dann hatten sie Unterricht bei ihrer Gouvernante. Nach dem Mittagessen halfen die Mädchen in der Küche und Mercy machte einen Spaziergang im Garten. Das war ihr kleines Vergnügen, ein Spaziergang unter Sternen durch die kahlen Rosenbüsche.
    Heute allerdings war etwas Außergewöhnliches geschehen. Da waren seltsame Träume in der Nacht und beim Aufwachen ein Schneeglöckchen auf ihrem Kopfkissen. Die frische weiße Blüte lag nur wenige Zentimeter von ihrem Gesicht entfernt. Wo war sie hergekommen? In den Gärten und Parks von Century wuchs nichts. Die Erde war gefroren, hart wie Eisen. Sie hatte die Blume vom Kissen genommen, staunend die zarten weißen Blütenblätter mit den Fingerspitzen berührt und versucht, noch den zartesten Duft einzusaugen, den sie vielleicht verströmte. Das Schneeglöckchen war ein Bätsei. Sein Anblick hatte sie erschüttert.
    Den ganzen langen, dunklen Tag hatte sie über die Blume nachgedacht, sie geheim gehalten und über ihre Herkunft gegrübelt. Ob Charity, Aurelia oder ihr Vater sie wohl neben sie gelegt hatten, während sie schlief? Als Überraschung? Sie wartete darauf, dass der Schuldige sich zu erkennen gab.
    Dann, bei ihrem üblichen Spaziergang im Garten, war ihr eingefallen, dass am Teich auf der Wiese immer Schneeglöckchen gestanden hatten. Da hatte sie auf dem Absatz kehrtgemacht und war in diese Richtung gegangen. Sie hatte das normale Muster durchbrochen.
    Mercy konnte sich nicht daran erinnern, wann sie den kleinen Teich zum letzten Mal gesehen hatte. Lange, sehr lange war es her, in dem Frühling, der nie zurückgekehrt war, als der Teich ein kühles grünes Juwel gewesen war, auf dem die geisterhafte Gallerte von Froschlaich trieb. Doch die Blume erinnerte sie an manchen Januar in der Vergangenheit, als Büschel von Schneeglöckchen die Ufer des Teiches gesäumt hatten. Vorboten des Frühlings in den dunkelsten Tagen. Standen die Blumen jetzt wieder in Blüte? Schneeglöckchen hatte sie nicht finden können, doch nun wusste sie, dass der Teich ein eigenes Geheimnis barg.
    Merkwürdige Gedanken bohrten in ihrem Kopf, wie ein Traum, den sie nicht greifen konnte. Sie raufte sich das Haar. Ihre Füße juckten. Aurelia starrte sie an.
    »Geh jetzt ins Bett«, sagte sie. »Du siehst müde aus.«
    In Mercys Zimmer brannte ein Feuer in dem kleinen eisernen Ofen, der auf den blau-weißen Fliesen stand. Aurelia half Mercy beim Ausziehen und band ihr die Schleifen an ihrem weißen Nachthemd, sie bürstete ihr das Haar und hängte ihr verschossenes Seidenkleid auf einen Bügel.
    Mercy sprang ins Bett und zog die Decken hoch. »Aurelia, wie lange wohnen wir schon hier?«, fragte sie.
    »Ach du liebe Güte, das weiß ich nicht mehr.« Aurelia machte sich im Zimmer zu schaffen, zog die staubigen Vorhänge zu und faltete Mercys Schal.
    »Nun, ungefähr, wie lange?«
    »Als wir aus Italien kamen, sind wir nach Century gezogen«, sagte Aurelia schnell. »Aus Rom. Der alten Heimat.«
    »Ich weiß. Wie lange ist das her?«
    »Sehr lange. Ich weiß nicht mehr.« Aurelia stellte sich aufrecht hin und runzelte die Stirn. »Lange«, sagte sie. »Schlaf jetzt.«
    Aber Mercy lag noch eine Weile wach, sie merkte, wie das Herz ihr gegen die Rippen schlug. Sie streckte Arme und Beine aus. In seinem weißen wolkigen Kleid driftete der Geist durch ihre Gedanken. Wie lange dauerte der Winter nun schon? Früher wäre ihr nie eingefallen, danach zu fragen.
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