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Die Entscheidung

Die Entscheidung

Titel: Die Entscheidung
Autoren: Lisa J. Smith
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Die Stewardess kam auf sie zu, und Jennys Nacken und Fingerspitzen begannen zu kribbeln.
    Bleib ruhig, sagte sie sich. Ganz ruhig.
    Aber ihr Herz hämmerte wild, als die Stewardess ihre Reihe erreichte. Das dunkelblaue Kostüm mit den cremefarbenen Akzenten sah ziemlich militärisch aus. Ihr Gesicht war sympathisch, wenn auch autoritär, wie das einer wachsamen Lehrerin.
    Schau sie nicht an. Schau aus dem Fenster.
    Jenny bohrte ihre Fingernägel in den Kunststoffrahmen des ovalen Fensters und starrte in die Dunkelheit. Neben ihr saß Michael, sein Teddybärkörper war vor Anspannung wie versteinert. Aus dem Augenwinkel konnte sie Audrey auf dem Gangsitz sehen; sie beugte ihren glänzenden kupferfarbenen Kopf über die Flugzeugzeitschrift. Die Stewardess versperrte Jenny die Sicht auf Dee in der Sitzreihe gegenüber.
    Bitte lass sie weggehen, dachte Jenny. Warum steht sie nur so lange da?
    Michael konnte jetzt jeden Moment in hysterisches Gekicher ausbrechen – oder schlimmer noch, ein hysterisches Geständnis ausposaunen. In Gedanken flehte
Jenny ihn an, den Mund zu halten. Die Stewardess musste weggehen. Sie konnte nicht ewig bei ihnen rumstehen.
    Endlich ging sie weiter. Es war klar, dass sie nicht rein zufällig bei ihnen stehen geblieben war, um auf dem Weg von der Bordküche eine kleine Pause einzulegen. Sie hatte sie angesehen, jeden von ihnen, der Reihe nach an. Mit einem ernsten, forschenden Blick.
    Wir sind Schüler aus dem Debattierclub, die zur Endausscheidung fliegen. Unsere Begleiterin ist krank geworden, aber in Pittsburgh wartet eine andere als Ersatz auf uns. Wir sind Schüler aus dem Debattierclub, die zur Endausscheidung fliegen. Unsere Begleiterin ist krank geworden, aber …
    Die Stewardess beugte sich zu Jenny vor.
    Oh mein Gott, ich werde mich übergeben.
    Audrey blickte starr in ihre Zeitschrift, ohne zu blinzeln, ihre Wangen so blass wie Kamelien. Michael hielt die Luft an.
    Ruhig, ruhig, ruhig …
    »Haben Sie den Obstteller bestellt?«, fragte die Stewardess.
    Jennys Gedanken überschlugen sich. Für eine Schrecksekunde dachte sie, sie müsste die Entschuldigung herunterrasseln, die sie einstudiert hatte. Mit trockener Kehle flüsterte sie: »Nein. Das ist für sie – gegenüber.«
    Die Stewardess drehte sich um. Dee, eins ihrer langen Beine angewinkelt und gegen den Vordersitz geklemmt,
hob den Blick von ihrem Fitness-Magazin und lächelte. Abgesehen von dem Magazin und ihrer robusten Military-Jacke sah sie aus wie Nofretete. Selbst ihr Lächeln war königlich.
    »Ihr Obstteller«, sagte die Stewardess. »Bitte sehr, meine Liebe.« Und im nächsten Moment war sie verschwunden.
    »Du und deine verdammten Obstteller«, zischte Jenny über den Gang hinweg. Und an Michael gewandt fügte sie hinzu: »Um Gottes willen, Michael, atme!«
    Michael stieß zischend die angehaltene Luft aus.
    »Was können sie schon machen?«, fragte Audrey, immer noch in ihre Zeitschrift vertieft und ohne die Lippen zu öffnen. Ihre Stimme war durch das tiefe Dröhnen der Motoren kaum zu hören. »Uns hinauswerfen? Wir sind zehn Kilometer hoch in der Luft.«
    »Erinnere mich bloß nicht daran«, murmelte Jenny in Richtung Fenster, während Michael Audrey mit gedämpfter Stimme erklärte, was seiner Meinung nach vier Ausreißern in Pittsburgh blühen könnte.
    Ausreißer. Ich bin wirklich ausgerissen, dachte Jenny staunend. Es war etwas völlig Untypisches für sie, für die brave Jenny Thornton.
    In dem dunklen Fenster konnte sie einen Teil ihres Gesichts erkennen. Ein Mädchen mit waldgrünen Augen, so dunkel wie Kiefernnadeln, und Augenbrauen, so gerade wie zwei entschlossene Pinselstriche. Ihr Haar
hatte die Farbe von im Sonnenlicht schimmerndem Honig.
    Jenny schaute an ihrem geisterhaften Spiegelbild vorbei nach draußen, in die schwarzen Wolken. Jetzt, da die eine Gefahr – in Gestalt der Stewardess – vorüber war, hatte sie wieder Zeit, sich über die andere Gefahr Sorgen zu machen – den Tod.
    Sie hatte furchtbare Höhenangst .
    Aber es war seltsam – sie hatte zwar Angst, fühlte jedoch zugleich eine eigenartige Spannung. Eine Spannung wie bei einem Notfall oder einer Naturkatastrophe. Wenn alle normalen Regeln außer Kraft gesetzt sind und alle Dinge, die bis eben wichtig waren, plötzlich bedeutungslos werden.
    Wie die Schule. Die Zustimmung ihrer Eltern. Der Vorsatz, ein braves Mädchen zu sein.
    Alles wie weggefegt, seit sie abgehauen war. Und ihre Eltern würden nicht einmal verstehen,
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