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- Das Haus der kalten Herzen

- Das Haus der kalten Herzen

Titel: - Das Haus der kalten Herzen
Autoren: Sarah Singleton
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Welle. Die Frau strömte dahin.
    Als das Gesicht der Geisterfrau unter Mercys Füßen angekommen war, schlug sie die Augen auf, leere Höhlen, in denen sich das Violett des Himmels spiegelte. Das Eis, das nicht ganz klar war, verhüllte ihre Züge.
    Mercy schnappte nach Luft, obwohl sie genau wusste, dass sie es hier mit einem Geist zu tun hatte. Die anderen Geister hatte sie schon so oft gesehen. Sie waren ihr vertraut, sie bemerkte sie ebenso wenig wie die alten Gemälde an der Wand. Aber für diesen Geist galt das nicht. Mercy hatte keine Angst, doch der Anblick war trotzdem ein Schock für sie gewesen – denn es war ein neues Gesicht. Es war, als würde sie ins kalte Wasser springen oder stolpern. Ihre Haut schien zu kribbeln, von ganz unten bis zum Kopf, die ganze Wirbelsäule entlang.
    Sie stand auf und trat vom Teichufer zurück, aber sie konnte den Blick nicht von dem Geist losreißen. Das Haar der Frau kräuselte sich ein wenig in der Strömung. Sie öffnete den Mund und schloss ihn wieder, so wie ein Fisch. Vielleicht wollte sie etwas sagen. Mercy blieb nicht da, um das herauszufinden. Sie raffte ihre Röcke und rannte über die Wiese. Sie blieb nicht stehen, bis sie das Haus erreicht hatte.
    Das Haus hieß Century. Das bedeutete Jahrhundert. Es ragte über dem Ha-Ha auf, einem Graben mit dahinterliegendem Wall, der das Vieh vom Garten fernhielt. Vom Haus aus sah man über den Park, die Wiesen und … weiter entfernt, einen riesigen See, der wie Quecksilber wirkte.
    Mercy rannte die Treppe zum Garten hinauf und durch das Tor in der Mauer, die den Rosengarten umgab, dann zur Küchentür hinein. Vornübergebeugt schürte hier Aurelia das Feuer. Sie fuhr herum, als sie die Tür schlagen hörte.
    »Mercy!«, schimpfte sie. »Musst du denn immer so einen Krach machen?«
    Aurelia war dünn, sie trug ein enges schwarzes Kleid und hatte sich das Haar zum Knoten hochgesteckt. Als sie bemerkte, wie verängstigt und atemlos Mercy war, änderte sich ihr verärgerter Gesichtsausdruck, sie schaute das Mädchen besorgt an.
    »Mercy«, sagte sie noch einmal sanfter. »Was ist passiert? Mercy, Liebes, setz dich. Du fühlst dich kalt an, dein Gesicht ist ganz blau! Schau dir nur deine Hände an – und die Arme. Das Blut fließt ja gar nicht mehr in deine Finger. Setz dich ans Feuer.«
    Sie scheuchte Mercy auf den kleinen Holzschemel vor dem Feuer, schnürte ihr die Stiefel auf und rieb ihr die Füße, damit sie wieder warm wurden. Mercy kam wieder zu Atem, sie versuchte zu sprechen, aber Lippen und Zunge waren zu kalt. Aurelia wärmte für Mercy Milch, füllte sie in eine Tasse und gab etwas Zimt hinein. Langsam erholte Mercy sich. Ihre Hände pochten und kribbelten, während sie wieder warm wurden.
    »Nun, was ist passiert?«, sagte Aurelia, die geduldig die Sohlen von Mercys kleinen Füßen rieb.
    »Ich habe einen neuen gesehen«, sagte Mercy. »Ich habe einen Geist gesehen. Unter dem Eis in dem kleinen Teich hinter der Brennereiwiese.«
    Aurelia setzte sich kerzengerade auf. »Warum hast du das gemacht? Warum bist du über die Wiese gegangen?«
    Aurelia war beunruhigt, denn Centurys Tage waren lang und unveränderlich. Nichts Neues oder Seltsames sollte hier jemals geschehen. Vielleicht waren sogar Morgengrauen oder Abenddämmerung eine Illusion, und das Haus war auf ewig in Dunkelheit gehüllt.
    Doch Aurelia wusste, was Mercy sehen konnte, und sie glaubte ihr. Anfangs hatten alle angenommen, Mercy dächte sich es nur aus, wenn sie ihnen von den Geistern erzählte. Viele Kinder hatten unsichtbare Freunde. Mercys unsichtbare Freunde verblassten allerdings nicht. Abgesehen davon waren derartige Fähigkeiten in ihrer Familie nichts Ungewöhnliches. Trajan, Mercys Vater, hatte ihr vor langer Zeit erzählt, dass seine Großtante väterlicherseits auch Geister gesehen hatte, und alle hatten das schließlich akzeptiert. Mercy sah jeden Tag den Geist einer roten Katze in der Küche. Sie sprang auf die Anrichte, rollte sich zusammen und schlief ein. Manchmal konnte sie einen Mann in der Kluft eines Gärtners im Obstgarten Äpfel pflücken sehen. Meistens blieben diese Leute irgendwie im Hintergrund, wie eine verblasste Tapete, völlig unauffällig.
    Aurelia, die Haushälterin und Kinderfrau, hatte es nicht gern, wenn man Geister sah. Sie spitzte die Lippen vorwurfsvoll und schüttelte den Kopf. Tatsächlich, dachte Mercy, verhielt sie sich, als wäre das Geistersehen eine schlechte Angewohnheit, wie Nägelkauen oder Pfeifen, die
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