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- Das Haus der kalten Herzen

- Das Haus der kalten Herzen

Titel: - Das Haus der kalten Herzen
Autoren: Sarah Singleton
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einer Stickerei beschäftigt. Mercy schaute in Trajans Gesicht und erkannte die Züge, die sich in ihrem eigenen und Charitys Gesichtern wiederholten. Als ob Gesichtszüge nie ganz die eigenen wären, sondern immer nur etwas Geborgtes. Geliehen, weitergegeben, umgeformt. Ein Familienerbe, von dem Anteile ausgegeben wurden, von Eltern an Kinder, wieder und wieder.
    Trajan hörte auf zu lesen und nahm einen Schluck von seinem Tee. Auf der Titelseite des Märchenbuches stand Mercys Name unter dem ihrer Mutter. Mercy Galliena Verga. Ein Erbstück. Ein Zyklus von Generationen.
    »Was glaubst du, wohin Claudius gegangen ist?«, fragte sie.
    »Ich weiß nicht«, sagte Trajan. »Wir wollen mal annehmen, dass er seinen eigenen Weg macht. Er wird die Familie in Italien aufsuchen.«
    Aurelia, die jetzt jünger aussah, hatte neue Kleider für die Mädchen bestellt. Die Mode hatte sich geändert. Sie füllte das Haus mit Blumen und fing an, neue Dienstboten einzustellen. Draußen auf den Rasenflächen reckten gelbe und blaue Krokusse ihre Köpfe.
    Abends aßen sie gemeinsam und Trajan hob sein Glas auf die neue Familie. Charity kicherte und Galatea schalt sie.
    Mercy musterte sie alle, einen nach dem anderen. Glaubte Trajan wirklich an Erneuerung? Wie die Schneeglöckchen, die mitten im dunkelsten Winter in Eis und Schnee ihre Köpfe hoben? Aber Mercy wusste um ihr eigenes Anderssein, wusste, wie sie sich von den anderen unterschied. Wie konnte sie dem Muster entkommen, wenn vorher festgelegt war, wie sie denken und fühlen sollten? Nur nicht zu sehr darüber grübeln. Am besten nicht über Leidenschaft und Verlust, Tod und Einsamkeit philosophieren. Denn das Essen war gut. Die Kuchen waren besonders fein und süß. Kerzenlicht huschte über ihre Gesichter.
    Hier, jetzt. Der Augenblick näherte sich seiner Vollkommenheit. Mercys Blick verschwamm.
    »Was ist mit Mercy los?«, fragte Charity. »Sie weint.«
    Trajan lächelte sanft. »Lass deine Schwester in Ruhe. Lass sie essen. Es ist schwer, nach so langer Zeit aufzuwachen. Das Herz regt sich.«
    Mercy nickte, wischte sich übers Gesicht und Aurelia räumte die Teller ab.

    Eine Woge von Osterglocken brandete auf und verebbte wieder. Die Obstbäume im Garten standen in voller Blüte. Mercy schaute von ihrem üblichen Platz am hohen Fenster im ersten Stock hinaus. Wie Kerzen standen die Blüten der Rosskastanie weiß und wächsern auf dem Baum an der Auffahrt. Oft ging sie stundenlang im Sonnenschein spazieren und machte sich wieder mit dem Anwesen vertraut. Bis jetzt war sie nie über das Torhaus hinausgekommen, obwohl oft Kutschen auf der Straße entlangfuhren. Die Welt lockte, aber sie war noch nicht bereit.
    Eines Morgens kamen zwei Spaziergänger die Auffahrt hinauf. Ein Mann und eine Frau, sah Mercy. Sie beobachtete sie, als sie sich dem Haus näherten. Der Mann trug einen Zylinder, eine überraschende neue Mode.
    Das Paar war jung und ein wenig nervös. Sie standen zögerlich auf den Steinstufen. Schließlich hob der Mann einen Stock mit einem silbernen Griff und klopfte an die Eingangstür.
    Man führte sie in den Salon im Erdgeschoss. Galatea bestellte Tee. Aurelia sagte den Mädchen, sie sollten sich ordentlich zurechtmachen, und führte sie in den Raum zu den Gästen.
    »Wir sind in Langley House eingezogen«, sagte der junge Mann. »Der Makler hat nicht erwähnt, dass wir Nachbarn haben. Ich hatte keine Ahnung, dass ihr Haus hier liegt, bis meine Frau es vor ein paar Wochen durch die Bäume sah. Groß wie es ist, sollte man es eigentlich nicht übersehen. Wir dachten, wir sollten uns vorstellen.«
    Trajan nickte den Mädchen zu. »Das sind meine Töchter, Mercy und Charity«, sagte er. Sie lächelten, gelähmt vor Schüchternheit.
    »Mr und Mrs Mason haben uns eingeladen, sie zu besuchen«, sagte Trajan.
    »Ja!«, rief die Frau. Sie war jung und blond und hübsch. »Ihr müsst beide zum Tee kommen. Mr Verga hat mir erzählt, dass ihr beide gern lest. Ich habe so viele Romane, die ihr euch ausleihen könnt, wenn euer Vater damit einverstanden ist.«
    »Das wäre – reizend!«, sagte Charity. »Und Ihr Kleid gefällt mir so sehr, Mrs Mason. Es ist wunderschön. Schau mal, Mercy. All diese Rosenknospen. Und Ihr Haar, sie haben es so hübsch frisiert. Können Sie mir zeigen, wie man das macht?«
    Charity plapperte weiter. Trajan unterbrach sie.
    »Sie müssen die Begeisterung meiner Tochter entschuldigen«, sagte er. »Ich bin Witwer. Den Mädchen fehlt der Einfluss der
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