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Das Handwerk des Toetens

Das Handwerk des Toetens

Titel: Das Handwerk des Toetens
Autoren: Norbert Gstrein
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selbst immer abgestoßen hatte und ein Grund gewesen war für seine Zögerlichkeit, sein Beharren auf einem letzten Zweifel, sein grundsätzliches Dagegenhalten, wenn etwas ein für alle Mal klar zu sein schien.
    Obwohl ich mich sonst an vieles genau erinnere, weiß ich nicht mehr, ob er bereits da wieder angefangen hat, davon zu reden, doch noch ins Kosovo zu fahren, um endlich die Stelle zu sehen, wo Allmayer umgebracht worden war, weil er mehr darüber wissen würde, wenn er die Landschaft kannte, oder ob er erst nach seiner zweiten Reportage von neuem darauf kam, der Beschreibung einer Reise zu dem Ort, an dem in den Karl-May-Verfilmungen der sechziger Jahre die Sterbeszene von Winnetou gedreht worden war. Es wundert mich immer noch, wie sehr er einmal mehr die Ebenen vermischte, das reale Unglück im Krieg mit dem Filmtod in Verbindung brachte, als gäbe es tatsächlich einen Zusammenhang, und er wäre nicht nur seinen Hirngespinsten entsprungen. Wie es seine Art war, steigerte er sich hinein, und ich kann seine Fahrt zu dem Drehort nicht anders lesen als einen Passionsweg, die Straße von Obrovac hinauf auf den Mali-Alan-Paß, von Meeresniveau auf über tausend Meter, der holprige Schotterweg auf den letzten Kilometern, die vielen Kehren unter dem steil aufragenden Felsmassiv mit Blicken auf den Einschnitt der Bucht weit, weit drunten, den Canyon der Zrmanja, ihr unwirklich türkisfarbenes Band in der Ebene, und hinaus auf das offene Wasser und die Inseln.
    Ich vermochte mir seine Erregung gut vorzustellen, als er erfahren hatte, daß im Krieg genau dort oben eine Front verlaufen war. So wenig Bedeutung die Tatsache hatte, so viel maß er ihr bei, so sehr pochte er darauf, daß es wie bei Allmayer auf einem Paß gewesen war und daß die genaue Stelle immer noch hinter einer Minenabsperrung lag und deshalb nicht zugänglich war, eine Bodensenke nicht weit unterhalb des Kamms. Ein auf dem Weg liegen gebliebener, rostiger Panzer, dessen Turm leicht versetzt war und dem Kettenglieder und Laufräder fehlten, wahrscheinlich über die Jahre von Vorbeikommenden abmontiert und als Souvenirs mitgenommen, vervollständigte das trostlose Bild, die Gedenksteine für gefallene Soldaten am Wegrand, mit den Todesdaten 1993 oder 1995, eine unerwartete Hausruine hinter einer Kurve und die Sandsäcke ganz auf der Höhe, übereinandergestapelt, als wären die Stellungen gerade erst verlassen worden und lägen nicht schon wie seit Ewigkeiten in ihrer leeren Sinnlosigkeit da.
    Es muß eine groteske Veranstaltung gewesen sein, wie er mit seinem Begleiter dort herumgetappt ist, einem zahnlosen, alten Mann, der ihn mit der Behauptung, seinerzeit bei den Dreharbeiten als Statist mitgewirkt zu haben, überhaupt erst auf die Idee gebracht hatte, hinaufzufahren, und wenn ich mir die beiden vorzustellen versuche, Paul mit seinem vagen Wunsch, etwas zu finden, von dem er selbst nicht sagen konnte, was es war, und den mit tränenden Augen im Wind stehenden ehemaligen Apachen, wird mir elend zumute. Angeblich hatte er ihn in einer Bar aufgegabelt, und allein wie er sich später über ihn ausließ, wie er erzählte, er habe ihm noch vor dem ersten Wort Photos von sich und den Hauptdarstellern gezeigt, traurig abgegriffene Bilder, auf denen er ihn nicht erkannt hätte, habe die Aufnahmen vor ihn hingelegt und gewartet, bringt mich auf den Gedanken, daß von den wirklichen Toten am Ende auch nicht mehr blieb als von denen im Film. Wenn ich mich nicht täusche, war es genau das, was er selbst meinte, als er davon sprach, wie einsam er sich mit ihm gefühlt hatte, wie fehl am Platz, ausgesetzt zwischen Himmel und Erde, und natürlich mußte dann auch noch kommen, daß er sich nicht nur daran erinnert hatte, sondern plötzlich auch wieder schmerzhaft gespürt, wie untröstlich er über Winnetous Ende als Kind gewesen war.
    Ich kannte das und hätte mir seinen Schwenk darauf im Grunde genommen erwarten können. Er war nicht der erste, der mir erzählte, daß er bei der Szene im Film geweint hatte, aber es war mir immer gelungen, Gespräche darüber zu vermeiden, weil ich nicht wußte, was sie bringen sollten. Daher wunderte ich mich um so mehr, als ich mich ihm zustimmen hörte, und nicht nur das, ehe ich mich versah, war ich sogar so weit gegangen, zu sagen, daß es bei mir das Ave Maria gewesen war, das mir die Tränen in die Augen getrieben hatte.
    »Dann mußt du das Buch gelesen haben«, erwiderte er, als ob der Unterschied so wichtig wäre.
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