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Wenn es dunkel wird im Märchenwald ...: Ritter Blaubart

Wenn es dunkel wird im Märchenwald ...: Ritter Blaubart

Titel: Wenn es dunkel wird im Märchenwald ...: Ritter Blaubart
Autoren: Sarah Schwartz
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Es war einmal ein Rittersmann, den man nicht edel nennen kann. Er schlug der Frauen Köpfe ab, und legte sie in frühes Grab ...
     
    Dichte Schneeflocken trieben über Bäume und Grabsteine. Sie legten sich auf die geharkten Wege, bedeckten das welke Laub auf den Grasflächen und benetzten Amelies kaltes Gesicht. Einige blieben auf den Wimpern und der Haut liegen. Sie schmolzen und hinterließen eine feuchte Spur.
    Amelie beachtete die Schneeflocken in ihrem Gesicht nicht. Sie stand vor dem Grab mit dem steinernen, aufgeschlagenen Buch, auf dessen Innenseiten die Namen ihrer Eltern prangten.
    Tränen weinte sie keine mehr. Nicht heute. Zwei Jahre war es her, laut dem Datum im Steinbuch. Zwei Jahre, dass das Auto von der Straße abgekommen und gegen einen Baum geprallt war. Manchmal war es auch für Amelie zwei Jahre her. Manchmal hundert. Und manchmal war es, als sei es erst gestern geschehen.
    Die Erinnerung an die Rose in ihren kalten Händen kehrte zurück. Längst waren die dünnen Stoffhandschuhe durchnässt. Sie kniete nieder und legte die Blume ab. Der Schnee setzte sich auf die weißen Blütenblätter.
    „Ich gehe bald fort“, flüsterte sie ihren Eltern zu. „Ich verlasse die Stadt. Lara und ich haben uns entschieden, einen neuen Anfang zu machen. Ich komme also nicht mehr so oft. Seid bitte nicht traurig deshalb.“
    Stille umgab sie. Auch in ihrem Herzen hörte sie an diesem Tag keine Antwort. Die Kälte kroch in sie hinein, schien sich dort wohlzufühlen.
    „Ich werde in München eine Stelle antreten. Und Lara geht zum Studieren nach Paris. Kunst. Ihr solltet ihre Bilder sehen! In den letzten zwei Jahren hat sie sich ganz und gar verändert. Ihr wäret stolz auf sie.“ Sie verstummte.
    Der Schnee rieselte lautlos. Unbeeindruckt von ihren Worten. Die Stille ließ alles unwirklich werden. Es war, als sei sie ein Teil eines Bildes, das ihre Schwester gemalt hatte. Eine kleine, dunkle Gestalt im schwarzen Fellmantel vor schneebestäubten Grabsteinen und Bäumen. An vielen Stellen hatte sich Raureif gebildet. Alles um sie her wirkte verzaubert in seiner Lautlosigkeit, abgerückt von der Welt.
    Es knackte in den Büschen hinter ihr. Ein Geräusch, als würde jemand durch das Laub schleichen, um dann auf einen Ast zu treten. Amelie fuhr beunruhigt herum. Die Nachrichten der vergangenen Monate schossen durch ihre Gedanken und verdrängten die winterliche Ruhe des Friedhofs.
    Was, wenn er hier ist?
    Die Befürchtung war paranoid. Warum sollte der Mörder, den die Presse „Blaubart“ nannte, ausgerechnet hier auf diesem Friedhof sein?
    Amelies Herz schlug hart gegen ihren Brustkorb. Die Wolkenbänke über ihr schienen herabzusinken und sie zu erdrücken. Angespannt starrte sie in die Büsche.
    Es war bestimmt nur ein Tier. Ein Vogel. Oder eine streunende Katze.
    Ein Schauder überlief sie, der nicht von der Kälte des Schnees herrührte. Jemand beobachtete sie!
    „Das ist doch Unsinn“, sagte sie in die Stille. „Diese Nachrichten machen einen verrückt. Heute ist nicht einmal Vollmond!“
    Der Gedanke beruhigte sie. Der „Blaubart“ hatte eine Frau in einer Vollmondnacht getötet. Irena Kartowski. Er hatte ihr den Kopf abgeschlagen. Bisher hatte man nur ihren Körper gefunden. Der Fundort lag keine zwanzig Kilometer entfernt. Zwei weitere Frauen waren in den beiden nachfolgenden Vollmondnächten spurlos verschwunden. Eine dieser Frauen war Marie, kaum siebzehn Jahre alt und eine Zeichenschülerin von Amelies Schwester. Lara war untröstlich gewesen, als ihre Schülerin und Freundin verschwand.
    Seit diesen Vorfällen ging die Angst in ihrem kleinen Dorf um wie ein Heer aus marodierenden Soldaten. Gerade in den Vollmondnächten wagte sich keine Frau mehr allein hinaus.
    Amelie schaffte es nicht, ihren Blick von den Büschen zu lösen. Sie schlang die Arme um ihren Körper.
    „Ich gehe jetzt“, sagte sie laut. In ihren Gedanken stieg das Vermisstenbild von Irena Kartowski auf, das sie auf Stefans Schreibtisch auf der Polizeiwache der Kreisstadt gesehen hatte. Irena war eine schöne Frau gewesen. Genau wie Marie. Schön und jung.
    Amelie wollte sich nicht ausmalen, welches grausame Schicksal vielleicht alle drei Frauen teilten.
    Ich muss endlich hier weg, ins Warme.
    Sie warf einen letzten Blick auf das Grab. Die weiße Rose war vollständig mit Schnee bedeckt. Nur ihre Form war noch auf dem schwarzen Marmor auszumachen.
    Amelie machte einen zögernden ersten Schritt vom Grab fort, dann einen zweiten.
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