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Das Handwerk des Toetens

Das Handwerk des Toetens

Titel: Das Handwerk des Toetens
Autoren: Norbert Gstrein
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gesehen hatte, und beschränkte mich darauf, ihm zu danken.
    Obwohl ich mir keineswegs sicher bin, halte ich es für möglich, daß seine Frau irgendwann in der Zeit bei ihm zu Besuch war. Es entspringt nur einem vagen Gefühl, doch als ich mich erkundigte, wie es ihm mit dem Schreiben ging, und er fragte, ob ich ihn etwa auch davon abbringen wollte, ihm empfehlen, sich nicht sein Leben lang in irgendeinem Loch vor der Welt zu verstecken, klang das, als hätte sie gerade versucht, ihn wieder einmal aus seiner Misere herauszuholen, und er war diesmal standhaft geblieben und nicht mit ihr gegangen. Nicht daß das weiter auffallend gewesen wäre, es war die Unwirschheit, in die er auch sonst manchmal verfiel, aber wenn ich denke, was dabei hätte herauskommen können, bereue ich es, nicht auf meinen ersten Impuls gehört und ihn nach ihr gefragt zu haben.
    Es war schon nach Ostern, als er in der Zeitung die erste große Reportage von seinem Aufenthalt veröffentlichte, einen finsteren Bericht aus einem Land, in dem der Krieg nach Jahren noch fortwirkte. Offenbar hatte er von einem gespenstisch anmutenden Begräbnis gehört, das in einem winzigen Nest im Hinterland von Split stattfand, und war dort hingefahren, um dann ein Bild davon zu zeichnen, daß einem das Frösteln kam. Es ging um die sterblichen Überreste von über hundert angeblich von Partisanen im Zweiten Weltkrieg ermordeten kroatischen Soldaten, die neun Jahre davor exhumiert worden waren und jetzt erst, nur zum Teil identifiziert, wieder beigesetzt werden sollten, und allein das Aufhebens, das darum gemacht wurde, die Tatsasche, daß ein Bischof die Einsegnung vornahm und fast drei Dutzend Priester ihm assistierten, hatte für ihn etwas ganz und gar Beklemmendes. Es mußten Hunderte von Trauergästen gewesen sein, eine unüberschaubare Kolonne von Autos mit häufig deutschen Kennzeichen, die plötzlich auftauchte, als er sich dem Dorf näherte, auf dem Friedhof ein Gedränge um den weißen Transportbus, in dem sich die numerierten und zugelöteten Metallkästen mit den Gebeinen befanden, und er konnte seinen Blick nicht von den schwarzgekleideten, alten Frauen lassen, die eine nach der anderen ein paar lange Augenblicke durch die Heckscheibe hineinschauten und sich dann stumm abwandten oder weinend weggeführt wurden. Den frei gelassenen Weg zur Kirche flankierten Männer mit Kränzen, gedrungene Gestalten, die auf ihren Zähnen herumkauten, um ihre Rührung zu verbergen, und am Eingang standen zwei Fahnenträger, ein Greis, der lautlos umkippte, kaum daß die über Lautsprecher ins Freie übertragene Messe begonnen hatte, und ein vielleicht Vierzigjähriger, dem er seine besondere Aufmerksamkeit widmete.
    Es war nicht nur das »U« auf seiner Gürtelschnalle, es war die Art, wie er dastand und über die Menge schaute, ein Riesenkerl, halb Wächter, halb Ministrant, und dann seinen Blick über das Hochplateau schweifen ließ, bis zu den Bergen im Hintergrund, was Paul offensichtlich beunruhigte. Denn die Detailbesessenheit, mit der er sich auf ihn bezog, erweckte den Eindruck, als wäre er von ihm buchstäblich hypnotisiert worden, die Feststellung, daß ausgerechnet er am lautesten mitbetete und mitsang, daß er sich an den entsprechenden Stellen als einer der wenigen hinkniete und dabei sein Barett abnahm und inbrünstig an seine Brust drückte und, wenn er sich wieder erhob, ein paar Augenblicke barhäuptig dastand, mit einer Frisur, korrekt geschnitten wie aus den fünfziger Jahren, einem streng ausrasierten Nacken und einem Haarwirbel wie ein Lausbub. Er setzte mehrmals dazu an, sein Gesicht zu beschreiben, kam aber nicht über die Formulierung hinaus, es sei eine merkwürdige Mischung aus Weichheit und Härte gewesen, die es bestimmt hätte, eine Weltfremdheit in den Augen, das gleichzeitig Stumpfe und Leuchtende eines Fanatikers, die bläßlich zerfließende Haut penibel rasiert, der strenge Mund zusammengebissen und blutleer.
    Für mich hatte es etwas geradezu Alttestamentarisches, wie er ihn so vor die riesigen Gräber hinstellte, die unter den hoch am Himmel dahinziehenden Wolken angeblich größer gewirkt haben als die Häuser, die vom Friedhof aus zu sehen waren, und als ich ihm später am Telephon sagte, was für einen zwiespältigen Eindruck er von ihm gegeben hatte, zögerte er zuerst lange und suchte dann tastend nach einer Antwort.
    »Er hat mich an etwas aus meiner Kindheit erinnert.«
    Ich schwieg, und als er fragte, ob ich noch da war
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