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Das Gift der Engel

Das Gift der Engel

Titel: Das Gift der Engel
Autoren: Oliver Buslau
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dass er sein Handy im Wagen gelassen hatte.
    Er sah sich um. Vor dem grauen Gebäude auf der anderen Seite des Hofgartens, in dem unten eine Autovermietung und oben das musikwissenschaftliche Seminar untergebracht waren, gab es ein öffentliches Telefon.
    Wer A sagt, muss auch B sagen, dachte Alban. Und wo er schon einmal hier war … Vielleicht war das Computerprojekt ja tatsächlich die Lösung.
    Eine Viertelstunde später klingelte Alban an der Tür eines Mietshauses in der Südstadt.
    Jung war am Telefon unkompliziert gewesen. Kaum hatte Alban sich gemeldet, da hatte der Student in ihm den bekannten Rezensenten erkannt. Er hatte sich sofort interessiert gezeigt und vorgeschlagen, sich gleich zu treffen, denn Zeit sei ja schließlich Geld. Alban hatte diesen Ausspruch noch nie aus dem Mund eines Studenten gehört. Was vielleicht daran lag, dass er seit Jahren mit keinem Studenten mehr gesprochen hatte.
    Auch als er Jungs Wohnung betrat, war er gezwungen, sein Bild von der heutigen studierenden Jugend zu revidieren. Zu Albans Zeit hatte es noch richtige Studentenbuden gegeben. Man wohnte irgendwo zur Untermiete. Bad und Toilette teilte man sich mit mindestens einer zweiten Person. Die Zimmer waren meistens nur mit Bett, Schrank und Tisch ausgestattet – ausrangierte Möbel der Vermieter. Eine Schreibmaschine war bereits extremer Luxus, und Papier musste man ebenso sparen wie Tinte. Vorlesungsmitschriften entstanden meist mit Bleistift. Bücher konnte man sich überhaupt nicht leisten, und so verbrachte man die meiste Zeit in der Bibliothek.
    Jungs Wohnung, unter dem Dach gelegen, war eng und mit technischen Geräten vollgestopft. Alban erkannte mehrere Computer, eine Hi-Fi-Anlage, einen Fernseher. Überall auf dem Boden schlängelten sich Kabel, und Alban musste aufpassen, dass er nicht stolperte. Um Platz für seinen Besucher zu schaffen, räumte der Student einen Stapel CD-Rohlinge von einem Stuhl.
    Jung sah nicht aus, wie Alban sich einen Studenten vorstellte. Er wirkte eher wie ein Dressman oder eine dieser Figuren aus den Musikvideos, die Simone manchmal ansah. Sein Haar war strähnenweise blond gefärbt, und in seiner Nase steckten spitze Metallgegenstände. Diese Art des Schmucks, die man als »Piercing« bezeichnete, verwirrte Alban. Manchmal hegte er den Verdacht, die Jugend von heute sei auf geheimnisvolle Art und Weise von Schmerz befreit. Ob das auch für andere Gefühle galt?
    »Kann ich Ihnen etwas anbieten?«, fragte Jung. »Einen Espresso vielleicht?«
    Alban drehte sich um, blickte durch eine Tür in die schmale Küche und bemerkte eine chromglänzende Espressomaschine.
    Er lehnte dankend ab, Jung nahm auf einem quietschenden Bürodrehstuhl Platz, schlug die nackte, behaarte Wade des einen Beines lässig über das andere und fragte: »Was kann ich denn genau für Sie tun?«
    Alban holte die Partitur heraus und erklärte kurz, was es damit auf sich hatte. Wie er zu dem Manuskript gekommen war, verschwieg er. Jung nahm die Noten, würdigte sie aber keines Blickes, sondern klappte mit der anderen Hand ein technisches Gerät neben sich auf, das wie ein flacher Kopierer aussah. Eine Glasplatte wurde sichtbar.
    »Möchten Sie sich die Handschrift nicht erst einmal ansehen?«, fragte Alban.
    »Ich möchte es gar nicht erst zu einer subjektiven Wahrnehmung kommen lassen. Es ist besser, wenn ich mir selbst kein Urteil bilde und das Stück direkt einscanne.«
    Alban war verblüfft. »Es ist besser, wenn Sie sich selbst kein Urteil bilden? Ich denke, Sie wollen herausfinden, was es damit auf sich hat? Wann es komponiert wurde und von wem?«
    Der Scanner kam in Gang und gab ein quietschendes Geräusch von sich.
    »Das wird uns vielleicht auch gelingen. Aber ich denke, wir sollten uns ganz auf das konzentrieren, was der Computer errechnet.«
    »Professor Gräber hat sich schon ein Bild gemacht«, sagte Alban. »Er hat gesehen, dass die barocken Stilelemente nicht …«
    Jung unterbrach. »Entschuldigen Sie, aber sprechen Sie bitte nicht weiter. Es ist besser, wenn ich das alles nicht weiß.«
    Alban schwieg pikiert. Er empfand es als grobe Unhöflichkeit, dass ihm dieser Student, der an die dreißig Jahre jünger war als er, das Wort verbot.
    Jung legte eine Seite nach der anderen auf die Glasplatte. »Die Partitur wird nach dem Einlesen elektronisch mit dem Datenstamm verglichen, den wir bereits eingegeben haben.«
    Nachdem er auch die letzte Seite eingescannt hatte, nahm er vor einem Monitor Platz. Der
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