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Das Gift der Engel

Das Gift der Engel

Titel: Das Gift der Engel
Autoren: Oliver Buslau
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einmal vertont hat?«
    Gräber ließ das Heft sinken. »Von einer anderen Vertonung habe ich noch nie etwas gehört. Die Melodie, die Händel für die Arie verwendet hat, taucht jedoch mehrmals in seinen Werken auf. In einer anderen, etwas älteren Oper als Instrumentalstück und in einem Oratorium, das Händel in Rom komponiert hat. 1707, wenn ich mich nicht irre.«
    »Vollkommen richtig.« Genau das hatte Alban zu Hause nachgelesen.
    »Aber das hier ist ein ganz anderer Fall. Bei Händel finden wir die Musik an verschiedenen Stellen seines Gesamtwerks. Hier dagegen geht es um eine Neuvertonung des Textes. Und das scheint mir doch außergewöhnlich zu sein. Denn der Dichter dieser Zeilen, der Opernlibrettist Giacomo Rossi, hat sie schließlich eigens für Händels Rinaldo gedichtet.«
    Auch das wusste Alban bereits. »Könnte es denn sein, dass auch dieses Stück hier von Händel stammt? Könnte es sich um eine unbekannte Fassung der Arie handeln? Ein bisher unbekanntes Händel-Werk?«
    Gräber konzentrierte sich wieder auf die Partitur, während um sie herum Studenten dem Schlossgebäude zustrebten.
    »Wo haben Sie das her?«, fragte er schließlich. »Kommen Sie mir jetzt nicht mit der Geschichte vom Manuskript, das auf dem Dachboden lag.«
    »Es stammt von jemandem aus meinem entfernten Bekanntenkreis. Er selbst weiß auch nicht, woher die Handschrift kommt.«
    »Und die Idee von der Alternativfassung der Händel-Oper stammt von ihm?«
    »Nein, das hatte ich mir überlegt.«
    Gräber schüttelte den Kopf und hielt Alban die Noten hin. »Ich muss Sie leider enttäuschen. Das Stück ist nie und nimmer von Händel. Auch nicht von einem anderen Barockkomponisten.«
    »Aber klingt es denn nicht, als wäre es aus dieser Zeit?«
    Gräber überlegte kurz, sah dann noch einmal auf die Uhr, und sagte: »Ich gebe zu, dass es darin auch viele barocke Stilelemente gibt. Aber sie wirken zitiert. Nachgeahmt. Sie sind nicht echt. Nicht wirklich aus der Zeit. Verstehen Sie, was ich meine?«
    »Das Stück ist also zu modern, um aus der Barockzeit zu stammen?«, versuchte Alban Gräbers Erkenntnisse zusammenzufassen.
    »Ich wüsste auch keine spätere Epoche, für die dieser Stil typisch wäre. Das Werk wirkt eher wie ein kompositorisches Experiment. Entschuldigen Sie, aber ich muss jetzt wirklich los.«
    »Können wir uns noch einmal unterhalten, wenn Sie etwas mehr Zeit haben? Vielleicht finden Sie ja doch noch einen Hinweis?«
    »Tut mir leid. Morgen Abend fliege ich zu einem Symposion nach Wien, und dann habe ich noch viel für das anfangende Semester zu tun. Aber ich habe eine andere Idee. Haben Sie etwas zu schreiben?«
    Alban holte seinen goldenen Kugelschreiber und einen Zettel aus der inneren Jackettasche und reichte beides Gräber, der etwas darauf notierte. »Das ist ein Student von mir. Er beschäftigt sich mit einem Projekt, das Ihnen vielleicht weiterhelfen kann. Es nennt sich ›Musica‹.«
    »Musica?«
    »Musikalische Interpretation mittels computergestützter Analysemethoden. Eine faszinierende Sache, Sie werden staunen. Der junge Mann brennt darauf, unbekannte Werke wie Ihre Partitur computertechnisch zu analysieren.«
    »Und was kommt am Ende dabei heraus? Sagt der Computer, welcher unbekannte Händel-Zeitgenosse seine Arien mit Septakkorden beginnt?«
    Gräber lächelte. »Lassen Sie sich überraschen. Auf Wiedersehen, Herr Alban.« Er streckte Alban die Hand hin, verabschiedete sich und ging in Richtung Hauptgebäude davon, nicht ohne sich noch einmal sorgsam über den Kopf zu fahren.
    Alban setzte sich auf die Bank und dachte nach. Gräbers Reaktion hatte ein Gefühl der Enttäuschung bei ihm hinterlassen. Sicher, er hatte den Professor auf dem falschen Fuß erwischt. Der Mann war natürlich sehr beschäftigt. Gleichzeitig empfand Alban fast so etwas wie Scham. Hatte er sich mit seiner Theorie, vielleicht auf ein bisher unbekanntes Werk von Händel gestoßen zu sein, lächerlich gemacht? Doch es war ja überhaupt nicht gesagt, dass es sich bei der Arie um ein unbekanntes Stück handelte. Es konnte gut sein, dass es manchen Insidern bekannt war, nur Alban hatte vielleicht noch nie etwas von einer zweiten Vertonung des berühmten »Lascia ch’io pianga« gehört.
    Alban betrachtete den Zettel, auf den Gräber Namen, Adresse und Telefonnummer seines Studenten notiert hatte. Er hieß Peter Jung und wohnte nur ein paar Minuten zu Fuß von der Uni entfernt. Alban tastete seine Taschen ab und kam zu dem Ergebnis,
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