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Das Gift der Engel

Das Gift der Engel

Titel: Das Gift der Engel
Autoren: Oliver Buslau
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Gnadenlos! Wie das klang! Hatte diese computergestützte Auswertung noch etwas mit Kunst zu tun? Konnte man auf diese Weise die Bedeutung von musikalischen Werken ermitteln? Wenn es so war, dann würde ein Rechner vielleicht demnächst auch seine Rezensionen schreiben …
    Alban versuchte sich vorzustellen, wie im Inneren dieser Maschine seine Arie, die bestürzend einschmeichelnde Melodielinie, zerlegt, verglichen, eingeordnet wurde. Es verursachte ihm beinahe Schmerzen.
    Der Balken hatte die »96« erreicht.
    »Jetzt haben wir es gleich geschafft. Der Rechner hat alles abgespeichert und die Partitur analysiert. Möchten Sie das Stück mal hören?«
    »Wie meinen Sie das? Kann Ihre Maschine auch singen?«
    »Ich habe das Stück in eine Midi-Datei umwandeln lassen. Technisch gesehen ist es nicht mit einer echten Aufführung zu vergleichen. Aber es verschafft einen Eindruck. Also, wie wär’s?«
    »Gerne.«
    Jung klickte noch ein bisschen am Computer herum, wandte sich dann der Stereoanlage in der Ecke zu und drückte ein paar Knöpfe.
    »Es geht los«, sagte er.

     
    Jedes Mal, wenn er versucht, es in Worte zu fassen, entgleitet ihm die Sprache. Wenn er Worte schreiben soll, erscheint ihm die Welt der Buchstaben wie eine Landschaft hinter Glas. Er kann verstehen, was die Buchstaben bedeuten. Er kann die Wörter lesen und ihnen einen Sinn geben. Aber es ist nicht seine Welt.
    Früher hat er sich dabei ertappt, wie er in Zeiten des Unglücks und des Kummers einfach vor sich hin sang. Er ahnte nicht, dass dieser Gesang, der tief aus seinem Inneren kam und ihn durchdrang wie ein endloser Strom von Gedanken, für andere hörbar war.
    Er sieht aus dem Fenster, blickt auf gelb gefärbtes Herbstlaub und verliert sich in dem trüben Bild.
    Er spürt nicht die Tränen, die an seinen Wangen hinunterlaufen.

     
    Als Alban seinen Volvo aus der Tiefgarage lenkte, klangen in ihm immer noch die eigenartigen Töne nach, die Jungs Lautsprecherboxen ausgestoßen hatten.
    Das Stück begann mit einer weiten Strecke dicker, dumpfer Akkorde, die nach und nach immer dissonanter wurden und sich nirgendwohin aufzulösen schienen. Alban war klar, dass er sich darunter anstelle der sterilen Synthesizerklänge ein federndes, pulsierendes Streichorchester hätte vorstellen müssen.
    Dann war über den Akkorden, die sich der unbekannte Komponist wohl als weiches, langsames Beben vorgestellt hatte, die einzelne, lang hingezogene Melodie des Soprans erschienen – die Kantilene, die Alban beim Lesen so berührt hatte, die in den Lautsprechern jedoch grob, blechern und primitiv geklungen hatte.
    Jung war von der Dürftigkeit der Darbietung unbeeindruckt geblieben. Als der letzte Akkord verklungen war, machte er ein Gesicht, als sei es ihm gelungen, Beethoven wiederauferstehen zu lassen.
    »Das Maschinchen wird jetzt ein bisschen arbeiten«, sagte er. »Die Vergleichsphase dauert immer am längsten. Ein paar Tage werde ich schon brauchen. Dann rufe ich Sie an.«
    Alban legte ihm seine Visitenkarte hin. Rasch hatte er sich dann verabschiedet und die Partitur eingesteckt, wobei er das Gefühl hatte, er müsse sie aus dieser Umgebung in Sicherheit bringen.
    Er bog auf die Konrad-Adenauer-Allee ab und drückte auf den Knopf des Radios. Klassikforum auf WDR 3. Der Moderator kündigte das erste Brandenburgische Konzert von Bach an. Als das Stück begann, genoss Alban die Klänge wie ein Verdurstender ein Glas Wasser.
    Die Erinnerung an die Synthesizerversion der unbekannten Arie verlor sich, während er sich Godesberg näherte. Kaum war er in die Beethovenallee eingebogen, endete das Bach-Finale, und der letzte üble Nachgeschmack von dem Besuch bei Jung war verschwunden.

3
    Die vier Notenpulte in Albans Arbeitszimmer waren so angeordnet, dass sich jeweils zwei Musiker gegenübersitzen konnten. Das Licht war gedämpft; nur die Noten mussten gut beleuchtet sein. Dafür hatte Alban schon vor Jahren teure Pulte mit integrierten Lampen gekauft, deren Aufbau ebenfalls ein wenig Vorarbeit kostete. Verlängerungsschnüre und Verteilerstecker mussten hervorgeholt und verlegt werden. Während er den Probenraum herrichtete, war Simone damit beschäftigt, ein Abendessen vorzubereiten, das man bequem in einer kleinen Probenpause einnehmen konnte.
    Bis um zehn vor sieben, kurz bevor Albans Mitstreiter erwartet wurden, war Alban mindestens achtmal in die Küche gelaufen und hatte Simone dabei beobachtet, wie sie Blattspinat mit Ziegenkäse zubereitete. Ebenso oft
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