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Das Gift der Engel

Das Gift der Engel

Titel: Das Gift der Engel
Autoren: Oliver Buslau
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Bildschirmschoner bestand aus den Buchstaben M, U, S, I, C und A, die langsam über eine dunkle Oberfläche trieben. Jung berührte eine Taste, der Bildschirmschoner verschwand, und er gab etwas ein. Alban konnte erkennen, dass sich die Notenseiten, die er mitgebracht hatte, nun auf dem Bildschirm befanden. Jung schob sie mit der Maus in eine bestimmte Reihenfolge, klickte ein paarmal, und nun erschien eine große Ziffer mit einem Prozentzeichen dahinter. Sie stieg langsam. Gleichzeitig wuchs ein dicker blauer Balken am unteren Rand des Monitors von links nach rechts.
    »Der Computer wandelt die Scans um. Jede Informationseinheit der Partitur wird in ihre Bestandteile zerlegt und in eine Datenbank eingegeben. Früher musste man, wollte man ein Musikstück analysieren, von seiner eigenen Erfahrung ausgehen. Sie kennen das sicher: Sie nehmen sich die Partitur eines unbekannten oder weniger bekannten Komponisten vor und fangen an zu vergleichen: Dieses Thema klingt wie Haydn, jener Formverlauf erinnert an Beethoven, dieser Instrumentationskniff an Berlioz, eine bestimmte harmonische Fortschreitung an Wagner.«
    Natürlich, dachte Alban. Das nennt man musikalische Analyse. So etwas hatte er in seinem Studium an der Musikhochschule absolvieren müssen. Er erinnerte sich, wie er dabei geschwitzt hatte. Am Anfang zumindest. Doch dann war diese Arbeit für ihn immer faszinierender geworden. Und die Faszination war bis heute geblieben. Jedes Mal, wenn er eine Partitur in die Hand bekam, versenkte er sich in die Architektur der Töne, in die Konstruktion der Beziehungen von Themen, Motiven, Melodien und Harmonien.
    »Diese Art der Analyse«, sagte Jung, »ist vollkommen von gestern.« Es klang schneidend arrogant.
    »Warum?«, fragte Alban. »Ich finde, das ist eine sehr sinnvolle Sache. Wir haben damals auf diese Weise eine Menge über Musik gelernt.«
    »Der Erfolg dieser Methode hängt aber einzig und allein von dem ab, was der Analytiker kennt. Aber Sie können so viele Werke kennen, wie Sie wollen. Sie sind niemals auf dem Stand, dass Sie alles kennen. Und Sie haben niemals alles , was es gibt, im Moment der Analyse präsent. Das schafft nur ein Datenspeicher.«
    Er blickte auf den Bildschirm. Der blaue Balken hatte knapp die Hälfte seines Weges erreicht. Die Prozentzahl zeigte »47«.
    »Zwei Jahre lang haben wir den Rechner mit Werken der Musikgeschichte gefüttert. Er kennt alle klassischen Sinfonien und die bekannteste Klavier- und Kammermusik von Haydn, Mozart und Beethoven. Das meiste von Schubert, Brahms, Bruckner, Wagner, Liszt und Schönberg. Außerdem alle exakt datierbaren Kompositionen von Händel, Bach und Vivaldi sowie die Partituren von Richard Strauss, Ravel, Debussy und noch viel mehr. Zum Beispiel viele, viele Werke der sogenannten Kleinmeister, die heute kaum noch auf den Konzertprogrammen auftauchen. Die Einspeisung dauert noch an. Wir werden Jahre brauchen, bis sie fertig ist. Wenn wir überhaupt jemals damit fertig werden.«
    »Und was macht Ihr Computer mit den Kompositionen?«
    »Wir haben ein System entwickelt, mit dem das Programm jedes Musikstück in seine Parameter zerlegt: harmonische Fortschreitungen, formale Abläufe, Rhythmen und anderes. Außerdem die Beziehungen dieser Parameter zueinander.«
    »Aber erkennen Sie denn nicht, dass Sie einem Irrtum unterliegen?« Alban holte Luft und suchte nach Worten. Dabei spürte er, wie er sich ereiferte. »Sie untersuchen ja nur Übereinstimmungen. Wo bleibt denn das Besondere? Das Genie eines Komponisten besteht doch gerade darin, etwas völlig Neues zu schaffen! Etwas, das Ihre Maschine gar nicht erfassen kann!«
    Jung blieb ruhig. »Sie werden sehen – je mehr Informationen wir haben, desto genauer liegen wir. Der Rechner ist unbestechlich. Er vergleicht die Daten hundertprozentig genau. Sollte die Arie in ihrer verborgenen Struktur zum Beispiel einem Lied von Richard Strauss ähneln – er wird es uns sagen. Sollte der Modulationsplan derselbe sein wie in einem Beethoven-Scherzo – wir werden es wissen.«
    »Aber das meine ich ja. Sie erkennen Übereinstimmungen. Aber erkennen Sie denn auch Neues, Unerhörtes?«
    »Die Aufgabe besteht nun einmal darin, unbekannte Musik einer bestimmten Epoche zuzuweisen. Der Rechner sucht und vergleicht nicht nur Stilelemente, sondern er ermittelt auch Häufungen bestimmter Eigenarten. Und diese Häufungen verbinden sich dann zu einer gnadenlos zwingenden Aussage.«
    Alban konnte es nicht fassen.
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