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Die Sternseherin

Titel: Die Sternseherin
Autoren: Jeanine Krock
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Irgendwo in Europa
     
    Der Redner tupfte sich mit einem Tuch den Schweiß von der Stirn und nahm einen großen Schluck aus seinem Wasserglas, bevor er weitersprach: »Die nachtaktive Spezies, die ich Ihnen heute vorstellen möchte, gehört gemeinhin in das Reich der Fabeln und Mythen. Anonyme Wohnsilos oder verlassene Gebäude bieten ideale Nistbedingungen für diese Kreaturen, die nur oberflächlich betrachtet mit uns Menschen verwandt sind. Sie leben mitten unter uns und finden besonders in den Städten ausgezeichnete Lebensbedingungen vor. Die Kriminalstatistiken der Metropolen in aller Welt weisen eine erstaunliche Anzahl unerklärlicher Todesfälle auf. Wir gehen davon aus, dass diese Wesen einen beträchtlichen Anteil daran haben. Sie sind, wie alle Raubtiere, effizient in ihrem Jagdverhalten, besitzen einen ausgeprägten Beutetrieb, und sie nähren sich von menschlichem Blut! Normalerweise sind sie scheu und listig, dennoch ist es unserem Team gelungen, eines ihrer Männchen zu fangen. Als wir es in seiner Höhle aufstöberten, wirkte es schwach und zeigte kaum Überlebenswillen.
    Im Labor haben wir dann unter hohen Sicherheitsvorkehrungen verschiedene Tests durchgeführt und können nun mit ziemlicher Sicherheit sagen, dass das kaum älter als zwanzig Jahre wirkende Männchen bereits über vierzig Jahre alt ist. Der Alterungsprozess wird offenbar durch chemische Vorgänge in seinem Blut verlangsamt. Wir haben berechtigten Anlass zu der Annahme, dass dieser Vorgang in Ausnahmefällen sogar völlig zum Stillstand kommt.
    Der nächste Test offenbarte eine weitere erstaunliche Fähigkeit, die von großer Bedeutung für die Humanmedizin der Zukunft sein wird. Aus Sicherheitsgründen wurde die Kreatur vor dem Experiment über mehrere Wochen hinweg nicht gefüttert, mit speziell entwickelten Fesseln fixiert und in einem videoüberwachten Raum gehalten. Sie wirkt zwar geschwächt, aber weit lebendiger als ein Homo sapiens in vergleichbarer Situation.«
    Das Foto eines bis auf die Knochen abgemagerten Toten auf einem Seziertisch wurde eingeblendet. Er war immer noch gefesselt. An den Seiten des Bildausschnitts befand sich eine Skala zur genaueren Feststellung der Proportionen. Das handverlesene Publikum reagierte verhalten, als ein Videofilm begann, auf dem offenbar derselbe Mann vergeblich versuchte, sich zu befreien.
    »Sehen Sie, wie dieses junge Männchen sich wehrt? Aus gutem Grund, denn gleich wird der Laborassistent einen seiner Finger amputieren. Wenig später können wir dann beobachten, wie es in einen todesähnlichen Schlaf fällt, in dem es über keinerlei nachweisbare Vitalfunktionen verfügt.«
    Die folgenden zwölf Stunden stellte der Film im Zeitraffer dar.
    »Schauen Sie, was passiert: Der Finger wächst vollständig nach!«
    Ein Raunen ging durch die kleine Zuschauergruppe, vereinzelt hörte er leises Lachen. Zum Schluss wurde zwar höflich applaudiert, aber die meisten verließen kopfschüttelnd den Raum. Es war ihnen deutlich anzusehen, dass sie nichts von alledem glaubten. Nur einer klatschte weiter in seine Hände, während er die Treppe des Auditoriums hinabschritt. »Eine hervorragende Arbeit!« Was anschließend hinter verschlossenen Türen besprochen wurde, blieb geheim.
    Eine Woche später entdeckten Spaziergänger den Professor auf einer Parkbank. Sein Kopf lag, säuberlich abgetrennt, neben ihm, von Blut keine Spur. Wenige Tage nach dem grausigen Fund erhielt der Lifestyle-Mediziner Dr. Gralon einen seltsamen Brief.

I
     
    Estelle versuchte, sich die Bestellungen der neu angekommenen Gäste zu merken, ohne dabei all die anderen überflüssigen Informationen aufzunehmen, die sie in Menschenansammlungen dieser Art immer empfing. Sie hatte gerade einen vielversprechenden Job verloren, und wenn sie ihre Miete am Ende des Monats bezahlen wollte, war sie darauf angewiesen, dass ihr Chef sie nicht vor dem Ende der Probezeit wieder rauswarf. Rasch räumte sie die Teller von einem Tisch und hob lächelnd ihre freie Hand, um einem Gast zu signalisieren, dass sie ihn gesehen hatte. Da stieß jemand an den Geschirrstapel, den sie in der anderen Hand balancierte. Verzweifelt versuchte sie, das Gleichgewicht zu halten, denn für jedes zerbrochene Stück mussten die Kellner selbst aufkommen. Und Estelles Bilanz der vergangenen Arbeitstage fiel nicht gerade zu ihren Gunsten aus. Sie sah auf und blickte einen älteren Gast an, der schon ansetzte, sich zu entschuldigen, als sich ein roter Schleier über
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