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Das Gewicht der Liebe

Das Gewicht der Liebe

Titel: Das Gewicht der Liebe
Autoren: Campbell Drusilla
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Dennoch nickte sie, pflichtete ihrer Großmutter bei. Einen Moment später schlüpfte sie unbemerkt aus dem Schlafzimmer hinaus.
    Ellen Vadis stand in der Tür zu Merells Zimmer und betrachtete ihre Enkeltochter, die ihr den Rücken zuwandte und auf den Garten und die zum Swimmingpool herabführenden Terrassen blickte.
    Sie sagte: »Merell, ich möchte mit dir reden.«
    Ellen fragte sich, was in Merells flinkem Kinderhirn vorgehen mochte, welche Geschichte sie sich gerade ausdachte. Roxanne war ein grüblerisches, unergründliches Kind gewesen, aber das war nichts im Vergleich mit diesem Mädchen hier. Merell war der reinste Marianengraben, und Ellen graute vor diesem Gespräch, seit Johnny sie gestern Abend zu dieser Aufgabe auserkoren hatte. Wäre er hier, würde er Merell wahrscheinlich, ehe er zu sprechen anfinge, in eine seiner umhüllenden Umarmungen ziehen, um ihren Widerstand aufzuweichen, aber Ellen hatte ihre Gefühle nie auf diese Weise zum Ausdruck bringen können. Wenn sie schon bei Simone und Roxanne nicht weich geworden war, so würde dieses kleine Mädchen die arktische Eiswüste in ihr erst recht nicht zum Tauen bringen.
    Merell rüttelte an Ellens Selbstvertrauen seit dem Tag, als sie begonnen hatte, Sätze zu bilden. Sie wusste zu viel, las zu viele Bücher und lauschte zu vielen Erwachsenengesprächen, drückte sich in dunklen Ecken herum und hörte Dinge, die für Kinderohren nicht bestimmt waren. Wäre dieses Gespräch mit ihr nicht unbedingt erforderlich, hätte Ellen auf dem Absatz kehrtgemacht, statt sich um eine Kontaktaufnahme zu bemühen.
    Erneut sagte sie: »Merell.«
    Das Kind wandte sich um, und für den Bruchteil einer Sekunde sah Ellen die reizlosen, kräftigen Züge ihrer eigenen Mutter vor sich; und sie war plötzlich wieder ein Kind, das die Spitzen seiner Buster-Brown-Schuhe in den Boden stieß, während es eine Standpauke über sich ergehen ließ. Merell hatte denselben schmalen, geraden Rücken, dieselben breiten Schultern, dasselbe farblose Haar. Ihre Knie waren knochig, die Arme lang und ihre Hände groß. Alles Hin weise darauf, dass sie eine große Frau werden würde. Ellens Mutter war nahezu einen Meter achtzig groß gewesen.
    »Ich möchte mit dir über gestern sprechen«, sagte Ellen. »Es gibt da einige Dinge, die ich dir erklären möchte.«
    »Mommy ist krank. Ich weiß alles darüber.«
    »Sie ist nicht krank«, erwiderte Ellen automatisch, ohne eine detailliertere Erklärung auch nur in Erwägung zu ziehen. Ganz egal, wie klug Merell sein mochte, ein Kind war immer noch ein Kind. »Sie ist traurig. Jeder ist manchmal traurig. Und diese traurigen Zeiten gehen vorüber. Du weißt, das ist immer so. Aber es ist keine Krankheit.«
    »Es ist eine Krankheit in ihrem Kopf. Ich war im Internet und habe alles darüber gelesen. Es heißt …« Merell wandte den Blick nach rechts, kaute auf ihrer Unterlippe. »So ähnlich wie postale Depression.«
    »Postpartale Depression.«
    »Ja. Das kriegt man, wenn man ein Baby bekommen hat.«
    Wie immer man es nannte – klinische Depression oder akute depressive Störung oder postpartale Depression –, es war nichts, was Ellen mit einer Neunjährigen diskutieren würde.
    »Im Internet sagen sie, dass es dagegen Tabletten gibt.«
    Wenn es nur so einfach wäre, dachte Ellen.
    Als Simone im Teenageralter war, hatte Ellen sie zu einem Psychiater geschleppt, der ihr Antidepressiva verschrieben hatte. Doch es kam zu Nebenwirkungen, und man konnte sich bei Simone nicht darauf verlassen, dass sie die Tabletten regelmäßig einnahm. Schließlich ließ Ellen keine Rezepte mehr ausstellen. Sie war damals mit BJ Vadis verheiratet und wollte die Harmonie zwischen ihnen nicht durch Gedanken oder Gespräche über Simones Probleme gefährden. In der Zeit nach Merells Geburt, als Simone eine Fehlgeburt nach der anderen hatte und mit jeder tiefer in Depressionen versank, hatte sie wieder Medikamente erhalten. Doch aus irgendeinem Grund, den Ellen nicht kannte, hatte die Medikation auch beim zweiten Mal nicht angeschlagen.
    Merell sagte: »Sie wollte Olivia wehtun.«
    »Was für ein Unsinn!« Die Wahrheit zu hören, verkündet mit solch ungebeugter Offenheit, machte alles noch schlimmer. »Sie liebt Olivia. Du darfst nicht so dumme Sachen behaupten.«
    »Aber warum …«
    »Ich weiß, du bist gescheit, Merell, aber das ist eine Erwachsenenangelegenheit. Und es muss eine private Sache bleiben. Du darfst deiner Tante nicht erzählen, was passiert ist. Oder
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