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Das Gewicht der Liebe

Das Gewicht der Liebe

Titel: Das Gewicht der Liebe
Autoren: Campbell Drusilla
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konzentrieren konnte. Ständig dachte sie an den gestrigen Tag zurück: die Kameras und die Polizei und die Lügen, die erzählt wurden, während die Polizei alles notierte, als wäre es die Wahrheit. Es machte sie wütend, dass alle glaubten, sie sei so dumm, die 911 ohne triftigen Grund angerufen zu haben. Gestern Abend hatten sich ihr Vater, Nanny Franny und Gramma Ellen bis tief in die Nacht unterhalten. Merell hatte auf der Treppe gesessen und versucht, ihr Gespräch zu belauschen, bis Daddy aus seinem Büro gekommen war und ihr gesagt hatte, sie solle ins Bett gehen und dass sie sich morgen mit ihr befassen würden. Heute war morgen. Ihr Vater war zur Arbeit gegangen, und niemand hatte sich mit ihr befasst.
    Sie fragte sich, ob Mommy wegen gestern böse auf sie war. Alle anderen waren es jedenfalls. Beim Frühstück auf der Terrasse hatte Gramma Ellen sie mit einem Blick bedacht, als würde sie Merell am liebsten in eine Zimmerpflanze verwandeln. Merell klappte ihr Buch zu, ging ins Haus und weiter nach oben. Es war kein guter Zeitpunkt, um ihre Mutter an ihr Versprechen zu erinnern, aber wenn sie auf einen guten Zeitpunkt warten würde, würde sie darüber alt und grau werden.
    Merell Duran war noch keine neun Jahre alt, wusste jedoch bereits, dass sie nicht so schön wie ihre Mutter oder so niedlich wie die Zwillinge war. Aber sie war klug, klüger sogar als ihre Mutter, was Merell nicht richtig vorkam. Ihre Arme und Beine waren lang und dünn, und die Ellbogen und Knie könnten genauso gut einem Jungen gehören, so spitz wie sie hervorstanden. Ihre Haare waren irgendwie schlammbraun und absolut nichts Besonderes, einfach ganz normale Haare, die trotzdem ganz furchtbar aussahen, weil Merell drei Wirbel am Hinterkopf hatte, sodass jeder, der hinter ihr stand, ihre rosa Kopfhaut sehen konnte. Ihre Nasenspitze war leicht nach einer Seite hin gebogen, und wenn sie sich im Spiegel anlächelte, sah ihr Gesicht schief aus, weshalb sie versuchte, Spiegel zu vermeiden. Daddy meinte, sie sei umwerfend, doch sie wusste, dass er nicht die Wahrheit sagte.
    Das Thema Ehrlichkeit und Lüge war für Merell von großem und verwirrendem Interesse, beinahe so rätselhaft wie Schwerkraft und Sex.
    Sie presste die Hand auf den Türknauf der Schlafzimmertür ihrer Mutter, öffnete die Tür vorsichtig und trat in das Dämmerlicht ein. Sie hatte gelernt, in Räume zu schlüpfen und in den Schatten der Ecken zu verschwinden, praktisch unsichtbar zu werden. Erwachsene mochten es nicht, wenn sie plappernd in ein Zimmer gerannt kam; besser war es, lautlos einzutreten und stehen zu bleiben, so wie jetzt, neben der Tür und ein kleines Stück hinter dem Stuhl, abseits vom Licht. Am anderen Ende des großen Schlafzimmers lag ihre Mutter, gegen ein halbes Dutzend Kissen gelehnt, unter einer blauen Bettdecke, umringt von Zeitschriften über Prominente und Mode. Die lichtundurchlässigen Jalousien waren heruntergezogen, und das Zimmer war dunkel bis auf einen keilförmigen Lichtschein aus der Ankleidekammer. Die Klimaanlage war so kalt eingestellt, dass Merell Gänsehaut bekam, und es roch nicht gut. Wenn die Trieze-Männchen zu Besuch kamen, wurde ihre Mutter unglücklich; und wenn sie unglücklich war, duschte sie nicht und stand kaum auf, um sich die Haare zu waschen, es sei denn, Tante Roxanne oder Gramma Ellen halfen ihr dabei.
    Etwas früher in diesem Monat hatte ihre Mutter eine Menge guter Tage gehabt, einen nach dem anderen, und Merell hatte beinahe vergessen, wie es war, wenn die Trieze- Männchen in Mommys Kopf waren. Erst letzte Woche hatte Mommy Celia mit großem Vergnügen dabei geholfen, die großen Spannbetttücher zusammenzulegen, und beim Ausräumen der Geschirrspülmaschine hatte sie mit den Zwillingen das ABC-Lied gesungen und dabei mit Absicht alle Buchstaben durcheinandergebracht, was Merell für keine gute Idee hielt. Anfang der Woche waren Mommy, Nanny Franny, Merell und ihre Schwestern in den Zoo gegangen und anschließend zum Essen ins Big Bad Cat, wo Mommy dem DJ eine Zwanzigdollarnote zugesteckt hatte, damit er »Chantilly Lace« spielte. Dann hatte sie einen der Kellner aufgefordert, mit ihr zu tanzen, zwischen den Tischen hindurch und drum herum, und die anderen Bedienungen hatten Kaugummi kauend zugesehen und im Takt zur Musik geklatscht. Als anschließend alle applaudierten, hatte Mommy sich elegant wie eine Prinzessin verbeugt. Sie war die einzige Mutter, die Merell jemals im Big Bad Cat hatte tanzen sehen.
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