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Das Gewicht der Liebe

Das Gewicht der Liebe

Titel: Das Gewicht der Liebe
Autoren: Campbell Drusilla
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natürlich, dass die bösartigen kleinen Männer nicht real waren, dass Mommy Depressionen hatte. Aber »Depression« war nur ein Wort wie »traurig« oder »einsam«, und sie verstand nicht, wodurch es eine solche Macht besaß, deshalb stellte sie sich weiterhin vor, ihre Mutter sei von winzigen, böswilligen Wesen besessen, deren einziges Verlangen es war, sie zu triezen und unglücklich zu machen. Seit der Geburt von Baby Olivia gingen die Trieze-Männchen kaum noch weg, und Merell fragte sich, ob sie die einzige Person in der Familie war, die sehen konnte, dass sie Mommy wehtaten, sie krank machten.
    »Wann fängt die Schule an?«
    Merell sagte, die städtischen Schulen begännen einen Tag nach dem Labor Day, die Arcadia Academy eine Woche später.
    »Wir haben doch erst Juli, oder? Also genügend Zeit.«
    »Schon gut, Mommy. Ich verstehe.«
    Simone legte sich zurück, schloss die Augen wieder. »Du bist so ein gutes Mädchen, Merell. Ich wünschte, ich wäre nicht … so.«
    Wenn Merells Mutter nicht unter Schlaflosigkeit litt, schlief sie so viel wie Baby Olivia. Nanny Franny sagte, Babys müssten sehr viel schlafen, weil ihre Gehirne noch wüchsen.
    »Mommy« – Merell machte einen zaghaften Schritt auf das Bett zu –, »wächst dein Gehirn noch?«
    »Himmel, nein. Es wird jeden Tag kleiner.« Mit einer Handbewegung schickte sie Merell weg. »Ab mit dir …«
    In diesem Moment kam Gramma Ellen ohne anzuklopfen ins Schlafzimmer. »Deine Schwester ist da.«
    Mommy sagte: »Mist.«
    Merell entfernte sich vom Bett, ging nah ans Fenster, wo sich die schweren Vorhänge an der Wand bauschten.
    Gramma Ellen sagte: »Ich habe sie gerade durch das Tor fahren sehen.«
    »Ich will sie nicht hier haben.«
    Mommy liebte Tante Roxanne mehr als fast jeden anderen Menschen auf der Welt, aber die Trieze-Männchen brachten sie dazu, Dinge zu sagen, die nicht stimmten.
    »Was will sie?«
    »Was glaubst du denn? Ich nehme an, sie hat wie alle anderen in dieser Stadt die Nachrichten gehört.«
    Mommy stöhnte und zog sich die Bettdecke über den Kopf. »Sag ihr, sie soll zurückkommen, wenn es schneit.«
    »Sehr witzig, aber ich glaube nicht, dass du ihr aus dem Weg gehen kannst. Du weißt, wie hartnäckig sie ist.«
    »Sag ihr, ich bin nach China gezogen.«
    »Sie liebt dich, Simone. Ich bin mir sicher, sie ist genauso besorgt wie …« Gramma Ellen hielt inne.
    Tante Roxanne stand in der Tür. »Wer zieht nach China?« Sie gab Gramma Ellen einen raschen Kuss auf die Wange.
    »Du könntest anklopfen, weißt du. Und du hättest an der Tür klingeln können.«
    »Wenn ich das getan hätte, Simone, hättest du dich einfach schlafend gestellt.«
    Gramma Ellen murmelte irgendetwas Beschwichti gendes.
    Tante Roxanne hob wie ein Schülerlotse die Hand in die Höhe. »Die Stunde der Wahrheit, Leute. Was ist gestern passiert?« Sie hatte eine sachliche Lehrerinnen-Stimme und einen groß gewachsenen, kräftigen Körper. Merell überlegte, dass es einer Menge Kraft bedürfte, um sie umzuschmeißen.
    Stöhnend, als hätte sie Bauchschmerzen, schob Mommy die Bettdecke zurück und setzte sich auf die Bettkante. Sie trug BH und Höschen, und ihre Haut hatte die Farbe von abgeschöpfter Milch. »Da war nichts groß. Ich war mit Olivia im Pool, und sie hat sich aus meinen Armen gewunden. Mehr ist nicht passiert. Sie hat gebrüllt und sich entsetzlich aufgeführt. Du weißt ja, wie sie ist.«
    Vielleicht hatte Tante Roxanne vergessen, dass Baby Olivia an einem Säurereflux litt und die meiste Zeit über Schmerzen hatte. Der Arzt meinte, das werde sich mit dem Älterwerden geben, doch sie schrie jetzt schon seit acht Monaten und schien nicht bereit zu sein, demnächst damit aufzuhören.
    »Niemand hat Schuld, es war einfach ein schreckliches Missverständnis.« Gramma Ellen wedelte mit den Händen. »Viel Wind um nichts.«
    »Was ist mit dir, Merell? Du hast die 911 gewählt.« Obwohl Merell im Dunkeln stand, wusste Tante Roxanne ge nau, wo sie war, sah ihr direkt in die Augen, ehe Merell wegblicken konnte. »Was hast du dazu zu sagen?«
    Gramma Ellen sagte: »Nanny Franny hat den Kindern beigebracht, wie man den Notruf benutzt, und unsere Miss Merell musste das natürlich sofort ausprobieren.«
    »Ist das so, Merell?«
    Merell fragte sich, ob ihr irgendwann das Lügen so leichtfallen würde, wie es das für ihre Mutter und Großmutter zu sein schien. Jetzt tat es ihr weh, als würden sich ein Dutzend dicker Gummibänder um ihre Brust schnüren.
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