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Rote Lilien

Rote Lilien

Titel: Rote Lilien
Autoren: Nora Roberts
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Prolog

    Memphis, Tennessee
    Juni 1893
    Sie war verzweifelt, verarmt und verwirrt.
    Früher einmal war sie eine schöne Frau gewesen, eine kluge Frau mit einem ehrgeizigen Ziel: Luxus. Und sie hatte ihn bekommen, weil sie ihren Körper zum Verführen und ihren Kopf zum Rechnen benutzt hatte. Sie war die Geliebte eines Mannes geworden, der zu den Reichsten und Mächtigsten in Tennessee gehörte.
    Ihr Haus war ein Schmuckstück gewesen, eingerichtet nach ihrem Geschmack und mit Reginalds Geld. Ihre Bediensteten hatten jeden ihrer Wünsche erfüllt, ihre Kleider hatten jedem Vergleich mit der Garderobe der gefragtesten Kurtisane in Paris standgehalten. Schmuck, amüsante Freunde, eine eigene Kutsche. Sie hatte fröhliche Gesellschaften gegeben. Man hatte sie beneidet und begehrt. Sie, die Tochter eines gefügigen Hausmädchen, hatte alles gehabt, was ihr habsüchtiges Herz begehrt hatte. Auch einen Sohn. Das neue Leben in ihr, das sie zuerst gar nicht haben wollte, hatte sie verändert. Es war zum Zentrum ihrer Welt geworden, zum Einzigen, das sie mehr liebte als sich selbst. Sie hatte Pläne für ihren Sohn gemacht, hatte von ihm geträumt. Hatte ihm vorgesungen, während er in ihrem Leib schlummerte. Sie hatte ihn unter Schmerzen, großen Schmerzen, aber auch mit Freude in die Welt geboren. Freude darüber, dass sie, wenn die quälenden Schmerzen vorbei waren, ihren Sohn in den Armen halten würde. Doch sie hatten ihr gesagt, es sei ein Mädchen. Und es sei tot geboren worden. Sie hatten gelogen. Sie hatte es damals schon gewusst, als sie vor Gram rasend geworden und immer tiefer in ihrer Verzweiflung versunken war. Damals, als sie verrückt geworden war, hatte sie gewusst, dass es eine Lüge gewesen war. Dass ihr Sohn lebte. Sie hatten ihr das Kind genommen. Sie hielten ihren Sohn gefangen. Wie konnte es anders sein, wenn sie seinen Herzschlag so deutlich spürte wie ihren eigenen? Aber nicht die Hebamme und der Arzt hatten ihr das Kind genommen.
    Reginald hatte sich geholt, was ihr gehörte. Er hatte sein Geld benutzt, um sich das Schweigen derer zu erkaufen, die ihm zu Diensten waren. Sie konnte sich noch gut daran erinnern, wie er in ihrem Salon gestanden hatte, bei seinem ersten Besuch nach Monaten voller Gram und Kummer. Er war fertig mit ihr, dachte sie, während sie mit zitternden Fingern das graue Kleid zuknöpfte. Es war zu Ende, jetzt, nachdem er hatte, was er wollte. Einen Sohn, einen Erben. Das Einzige, das ihm seine prüde Frau nicht hatte geben können. Er hatte sie benutzt und ihr dann ihren einzigen Schatz genommen, so selbstverständlich, als hätte er das Recht dazu. Und als Gegenleistung hatte er ihr Geld und eine Passage nach England geboten. Er wird bezahlen, bezahlen, bezahlen, dröhnte es in ihrem Kopf, während sie ihre Frisur richtete. Aber nicht mit Geld.
    O nein. Nicht mit Geld.
    Sie war jetzt so gut wie mittellos, doch sie würde schon einen Weg finden.
    Natürlich würde sie einen Weg finden, sobald sie ihren kleinen James erst wieder in den Armen hielt.
    Ihre Bediensteten - Ratten, die das sinkende Schiff verließen - hatten einen Teil ihres Schmucks gestohlen. Da war sie sich ganz sicher. Von dem, was übrig geblieben war, hatte sie fast alles verkaufen müssen, und dabei hatte man sie auch noch betrogen. Aber etwas anderes hatte sie von dem schmallippigen, hageren Juwelier gar nicht erwartet.
    Schließlich war er ein Mann. Lügner, Betrüger, Diebe. Jeder Einzelne von ihnen. Sie würden bezahlen. Alle. Sie konnte die Rubine nicht finden - das Armband mit Rubinen und Diamanten, herzförmige Steine, wie Blut und Eis.
    Reginald hatte es ihr geschenkt, als sie ihm gesagt hatte, dass sie schwanger sei. Gefallen hatte es ihr eigentlich nie. Es war zu feingliedrig, zu klein für ihren Geschmack. Doch jetzt wollte sie es unbedingt haben, und sie suchte wie eine Wilde in dem unaufgeräumten Chaos ihres Schlafzimmers und Ankleidezimmers danach. Als sie stattdessen eine Saphirbrosche fand, weinte sie wie ein Kind. Während sie ihre Tränen trocknete und die Brosche umklammert hielt, vergaߟ sie das Armband und das unbändige Verlangen danach. Sie vergaߟ, dass sie danach gesucht hatte, und lächelte die funkelnden blauen Steine an. Das Geld, das sie für die Brosche bekam, würde reichen, um ihr und James einen neuen Anfang zu ermöglichen. Sie Wollte ihn fortbringen, aufs Land vielleicht. Bis sie wieder gesund, wieder bei Kräften war. Eigentlich war es ja ganz einfach, stellte sie mit einem
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