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Rote Lilien

Rote Lilien

Titel: Rote Lilien
Autoren: Nora Roberts
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gespenstischen Lächeln auf den Lippen fest, während sie sich im Spiegel ansah. Das graue Kleid wirkte dezent und würdevoll - genau das Richtige für eine Mutter. Dass es wie ein nasser Sack an ihr herunterhing, dass die Taille nicht richtig saß, daran konnte sie nichts ändern. Sie hatte keine Bediensteten mehr, keine Schneiderin, die es ändern konnte. Wenn sie für sich und James erst einmal ein nettes kleines Häuschen auf dem Land gefunden hatte, würde sie mit Sicherheit ihre schöne Figur zurückbekommen.
    Sie hatte ihr lockiges blondes Haar aufgesteckt und mit einigem Bedauern auf Rouge verzichtet. Ein zurückhaltendes Äußeres war besser, fand sie. Ein zurückhaltendes Äußeres wirkte beruhigend auf ein Kind. Sie würde ihn jetzt holen. Sie würde nach Harper House fahren und sich holen, was ihr gehörte. Die Fahrt von der Stadt zum Herrenhaus der Harpers war lang, kalt und teuer. Sie hatte keine eigene Kutsche mehr, und bald, sehr bald, würden Reginalds Handlanger wiederkommen und sie aus dem Haus werfen, wie sie es ihr beim letzten Mal angedroht hatten. Aber die Privatkutsche war ihren Preis wert. Wie sollte sie den kleinen James sonst nach Memphis zurückbringen, wo sie ihn die Treppe zum Kinderzimmer hochtragen, zärtlich in sein Bettchen legen und in den Schlaf singen würde? »Lavendel ist blau, Lalilu«, sang sie leise, während sie ihre dünnen Finger ineinander flocht und nach draußen auf die winterlichen Bäume starrte, die die Straße säumten. Sie hatte die Decke mitgebracht, die sie für ihn aus Paris hatte kommen lassen, und das süߟe kleine Mützchen mit den dazu passenden Schühchen. Für sie war er immer noch ein Neugeborenes. In ihrem verwirrten Geist existierten die sechs Monate nicht, die seit seiner Geburt vergangen waren.
    Die Kutsche rollte langsam über die lange Auffahrt. Vor ihr tauchte Harper House in all seiner Pracht auf. Vor dem wolkenverhangenen grauen Himmel wirkten der gelbe Stein und die weiߟen Zierelemente warm und elegant.
    Stolz und stark ragte das zweistöckige Gebäude vor ihr auf, umgeben von Bäumen und Sträuchern und weiten, gepflegten Rasenflächen. Früher einmal, so hatte sie gehört, seien Pfauen auf dem Anwesen gehalten worden, die ihre bunt schillernden Schwanzfedern zu einem Rad ausgebreitet hätten. Doch Reginald sei ihr durchdringendes Kreischen auf die Nerven gegangen, und nachdem er der Herr von Harper House geworden sei, habe er die Vögel wegschaffen lassen. Er herrschte wie ein König. Und sie hatte ihm seinen Prinzen geschenkt. Eines Tages würde der Sohn den Vater vom Thron stoßen. Dann würde sie zusammen mit James über Harper House herrschen.
    Zusammen mit ihrem süߟen James. In den leeren Fensterhöhlen des großen Hauses, die wie kalte Augen auf sie herabstarrten, spiegelte sich die Sonne, doch sie stellte sich vor, wie sie dort mit James lebte. Wie sie ihn umsorgte, mit ihm im Garten spazieren ging, wie sein Lachen durch die hohen Räume schallte. Eines Tages würde es so weit sein. Das Haus war sein Eigentum, und daher gehörte es auch ihr. Sie würden glücklich und zufrieden dort leben, nur sie beide. So, wie es sein sollte. Sie stieg aus der Kutsche - eine blasse, dünne Frau in einem schlecht sitzenden grauen Kleid - und ging langsam auf den Haupteingang zu. Das Herz schlug ihr bis zum Hals. James wartete auf sie.
    Sie klopfte an die Tür, und da ihre Hände nicht stillhalten Wollten, faltete sie sie energisch vor der Brust. Der Mann, der ihr öffnete, trug einen gediegenen schwarzen Anzug, und obwohl er sie von Kopf bis Fuߟ musterte, verriet sein Gesichtsausdruck nichts. »Kann ich Ihnen behilflich sein, Madam?«
    »Ich komme, um James zu holen.«
    Seine linke Augenbraue ging fast unmerklich in die Höhe.
    »Es tut mir Leid, Madam, aber hier wohnt kein James. Wenn Sie sich nach einem Bediensteten erkundigen möchten, der Dienstboteneingang befindet sich hinter dem Haus.«
    »James ist kein Diener.« Wie konnte er es wagen? »Er ist mein Sohn. Er ist Ihr Herr. Ich will ihn holen.« Trotzig trat sie über die Schwelle. »Ich glaube, Sie haben sich in der Adresse geirrt, Madam. Vielleicht ...«
    »Sie werden ihn nicht vor mir verstecken können. James! James! Mama ist hier.« Sie stürzte auf die Treppe zu und kratzte und biss, als der Butler sie am Arm packte. »Danby, was ist hier los?« Eine Frau, die ebenfalls in das Schwarz der Dienstboten gekleidet war, kam durch die große Eingangshalle auf sie zu geeilt. »Diese
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