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Das Geschenk der Sterne

Das Geschenk der Sterne

Titel: Das Geschenk der Sterne
Autoren: Hans Kruppa
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lächelte mit kindlich anmutender Freude. »Ja, ich liebe sie sehr. Sie gehören zu den wunderbarsten Geschöpfen unter dem Himmel. Ihre Friedfertigkeit, ihre Sanftmut und Schönheit berühren und beglücken mich tief. Vor vielen Jahren fragte mich ein Zimmermann, der in meiner Nachbarschaft wohnte, ob ich ihm einen Gefallen erweisen könnte. Er hatte starke Schmerzen in seiner rechten Schulter und konnte deshalb die Bäume nicht fällen, deren Holz er brauchte. Er kannte mich nicht gut genug, und deshalb bat er mich, für ihn diese Bäume zu schlagen, und bot mir ein wenig Geld dafür an. Ich hatte damals kein Geld und nur wenig zu essen, aber ich hätte es nie übers Herz gebracht, auch nur einen einzigen Baum zu fällen. Mein Nachbar verstand mich nicht, aber wie hätte er mich auch verstehen sollen? Mich zu verstehen, hätte für ihn bedeutet, seinen Beruf aufzugeben.«
    Die Flüchtlinge standen auf und gingen zu den Pferden, um ihre Reise fortzusetzen. Während Tschuang Tse und Min Teng sich anschickten, sie loszubinden, griff Yu
Lin unvermittelt in ihre Satteltasche und zog das Buch des Lao Tse daraus hervor. Sie schlug es willkürlich auf und las die Zeilen, die sie auf diese Weise gefunden hatte: »Das Tao ist überströmend und überall. Alle Dinge verdanken ihm ihr Dasein, doch das Tao betrachtet sie nicht als sein Eigentum. Es ernährt und kleidet alle Dinge und Lebewesen, aber tritt nicht als ihr Herr auf. Darum mag man es als klein bezeichnen. Weil aber alles vom Tao abhängt, ohne es zu wissen, muß man es als groß bezeichnen. Der Mensch des Tao beansprucht keine Größe, und deshalb bringt er Großes zustande.«
    »Immer schlägst du das Buch des Lao Tse so auf, daß der Zufall entscheidet, welche Stelle du findest«, sagte Min Teng. »Gibt es einen Spruch, der dir der liebste ist?«
    Yu Lin lächelte sanft. »Am tiefsten berührt mich der zwanzigste.«
    »Dann lies ihn uns vor!«
    Yu Lin blätterte in dem Buch und erfüllte Min Tengs Bitte: »Der Verstand kennt keine Weisheit, das Denken keine Stille. Klug reden und vernünftig handeln: Was taugt es, wenn es nicht von Herzen kommt? Warum sollte ich schätzen, was andere schätzen, und meiden, was andere meiden? Alle Menschen sind so aufgeregt und ausgelassen, sie gehen zur Opferung des Ochsen und zur Feier des Frühlingsfestes. Ich bleibe still und unberührt von ihrem Treiben, wie ein kleines Kind, das noch nichts weiß. Ich kenne keinen Ort, zu dem ich gehen will, wie jemand, der keine Heimat hat. Die Menschen
besitzen, was sie brauchen; ich besitze nichts und gehe ziellos umher mit dem Herzen eines Narren und leerem Geist. Die Menschen wirken so klar und hell, doch ich bin verborgen und dunkel. Sie wirken so scharfsinnig und klug, doch ich bin schlicht und einfältig. Eifrig verfolgen sie ihre Zwecke und Absichten, doch ich weiß von nichts und bin müßig wie ein Bettler. Wie eine Meereswelle lasse ich mich treiben, wie eine Feder im Wind. Anders bin ich als die Menschen, fremd und sonderbar in ihren Augen. Doch das Tao versorgt und beschenkt mich.«
    »Warum berührt dich diese Stelle so tief?«
    »Vielleicht, weil ich mich selbst in diesen Worten Lao Tses wiederfinde«, antwortete Yu Lin auf Min Tengs Frage. »Auch ich habe mich oft wie ein Mensch gefühlt, der keine Heimat hat. Das emsige Verfolgen von Zielen und Absichten war mir schon immer fremd, und manche Menschen empfanden mich deshalb als sonderbar. Tief in mir spürte ich, daß die höchsten Güter des Lebens nicht mit Fleiß und Mühe zu erreichen sind, sondern mit offenem Herzen und absichtsloser Seele. Von Zeit zu Zeit kamen mir dennoch Zweifel. Lao Tses Worte halfen mir, diese Zweifel abzuwerfen. Und auch wenn ich mich manchmal wie eine Feder im Wind fühlte, hatte ich niemals Angst, meinen Weg zu verlieren.«
    »Ich habe auch nie befürchtet, meinen Weg zu verlieren, aber wohl deshalb, weil ich ihn noch nicht gefunden hatte«, gestand Min Teng. »Ich sagte mir, daß ich mit der Zeit schon erkennen würde, wohin mich das Schicksal
führen will. In der Obhut meiner Familie fühlte ich mich sicher und geborgen. Als mein Vater starb, verlor ich das Gefühl der Sicherheit. Und als meine Mutter vor Kummer erkrankte und ihm in den Tod folgte, fiel das Haus meiner Geborgenheit in sich zusammen und begrub mich unter namenloser Trauer und Einsamkeit. Mein Leben schien zu enden, bevor es eigentlich begonnen hatte. Als Hauptmann Feng mich dann in die Palastwache des Fürsten aufnahm, war ich
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