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Das Geschenk der Sterne

Das Geschenk der Sterne

Titel: Das Geschenk der Sterne
Autoren: Hans Kruppa
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dankbar dafür, daß ein starker Mann mir seine Hand reichte und mir vom Boden aufhalf. Ich versuchte, meiner Aufgabe so gut wie möglich gerecht zu werden, und fand schließlich neuen Halt in ihr.«
    »Hast du denn nie daran gedacht, daß deine Aufgabe darin bestand, andere Menschen zu töten?« fragte Yu Lin.
    »Ich habe oft daran gedacht, doch ich sagte mir, daß ich im Fall eines Kampfes niemanden angreifen, sondern mich nur gegen Angreifer verteidigen würde. Wie sollte ich ahnen, daß Hauptmann Feng mich eines Tages ausschicken würde, um einen wehrlosen Mann zu töten!«
    Min Tengs Blick fiel auf das Buch des Lao Tse in Yu Lins Hand. »Ich wollte, ich könnte selbst darin lesen.«
    Yu Lin blickte ihn überrascht an. »Du kannst nicht lesen?«
    Min Teng senkte beschämt den Kopf.
    »Ich werde dir die Schriftzeichen beibringen«, versprach sie, »und wenn du sie beherrschst, wirst du mir aus dem Buch des Lao Tse vorlesen.«

    Min Teng hob den Kopf und schenkte Yu Lin einen strahlenden Blick der Dankbarkeit.
    Wieder sprang ein Fisch aus dem Bach in die Höhe und fiel mit einem Platschen ins Wasser zurück.
    »Dieser Fisch ist freier als die allermeisten Menschen«, sagte Tschuang Tse.
    »Solange er nicht in das Netz eines Fischers gerät«, entgegnete Min Teng.
    »Ja, doch seine Aussichten auf ein langes Leben in Freiheit sind gut, während die Menschen im allgemeinen in ihrem Denken und Handeln gefangen sind wie Fische in einem Netz, gefangen in ihrem Unwissen darüber, daß man mit dem Denken nicht über das Denken hinausgelangt, wie man mit dem Handeln nicht über das Handeln hinausgehen kann. Den Weg zum Tao findet man nur im Nichtdenken und Nichthandeln, und deshalb begehen ihn so wenige, denn die gewöhnlichen Menschen meiden die Muße. Gedankenfrei und tatenlos im Augenblick zu verweilen, erscheint ihnen als Zeitvergeudung, als Faulenzerei, bei der sie eine innere Leere fühlen, die ihnen unangenehm und unheimlich ist. Doch gerade diese Leere ist der Eingang ins Haus der höchsten Wahrnehmung. Tiefer als die tiefsten Gedanken geht das innere Schweigen. Besser als die besten Erkenntnisse ist die vollkommene Stille im Geist. Gedanken und Erkenntnisse sind nur Begleiter zu der Tür, hinter der sich ein grenzenloser Raum der Weisheit öffnet, in dem das Leben mit sich eins ist und sein ursprüngliches Wesen genießt.«

    »Warum meiden so viele Menschen die Muße, obwohl sie die Quelle der Weisheit ist?« fragte Yu Lin.
    »Es gab einmal einen Mann«, sagte Tschuang Tse, »der sich sehr über den Anblick seines eigenen Schattens ärgerte und so unglücklich über seine eigenen Schritte war, daß er beschloß, seinen Schatten und seine Schritte hinter sich zu lassen. Er sagte sich: Ich laufe ihnen einfach davon! So stand er auf und begann zu laufen. Aber jedesmal, wenn er seinen Fuß aufsetzte, hatte er wieder einen Schritt getan, und sein Schatten folgte ihm mühelos. Er sagte sich: Ich muß schneller laufen! Also lief er schneller und schneller, und er lief so lange, bis er tot zu Boden fiel. Wäre er in den Schatten eines Baumes getreten, so wäre er seinen eigenen Schatten losgeworden, und hätte er sich hingesetzt, hätte es auch keine Schritte mehr gegeben. Aber darauf war er nicht gekommen.«
    »Willst du damit sagen, daß die Menschen nicht zur Muße finden, weil sie vor sich selbst davonlaufen?«
    »Wer fähig ist, in Muße zu leben, pflegt sie so oft wie möglich«, antwortete Tschuang Tse auf Min Tengs Frage. »Wer nicht dazu fähig ist, kann die Muße nicht ertragen und flüchtet vor ihr in unentwegte Tätigkeiten, ohne die Sinnlosigkeit seiner Flucht zu erkennen. Nur wenige Menschen vermögen, in der lauten Betriebsamkeit der Welt zu leben, ohne sich von ihr anstecken zu lassen. Nur den wenigsten gelingt es, den Erfordernissen der Welt gerecht zu werden, ohne ihr wahres Wesen und ihre innere Stille zu verlieren. Sie schöpfen ihre Weisheit aus ihrer eigenen Seele, aber sie weisen keinen guten Gedanken
zurück, bloß weil er von einem anderen kommt. Sie leben, wie alle Menschen, von den Gaben der Erde, doch ihr Glück schenkt ihnen der Himmel. Sie streiten sich nicht um Gewinn und Ruhm und Ehre und lassen sich nicht ein auf die Seltsamkeiten, Geschäfte und Pläne der anderen. Sie sind frei und einfach in allem, was sie tun. Wer Weisheit in seinem eigenen Inneren trägt, geht in Verborgenheit und hat Licht in sich selbst. Wer darauf aus ist, Geld und Besitztümer zu sammeln, ist nur ein Krämer. Die
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