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Das Geschenk der Sterne

Das Geschenk der Sterne

Titel: Das Geschenk der Sterne
Autoren: Hans Kruppa
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darauf wartete, von euch entdeckt und wachgeküßt zu werden.«

DER SCHUTZ EINER HÖHEREN MACHT

    Die Sonne hatte nahezu ihren höchsten Stand erreicht, als die Reisenden am rechten Wegesrand einen hohen, toten Baum sahen, der inmitten der von dichtem Laub geschmückten Bäume einen traurigen und einsamen Eindruck machte.
    »Ein Blitz hat ihn getroffen«, sagte Tschuang Tse, »und alles Leben aus ihm herausgebrannt. Nun ist er tot, trägt kein einziges Blatt mehr und steht doch noch fest und gerade, als würde er lebendig sein. Darin ähnelt er vielen Menschen, die ihren Geschäften und Gewohnheiten nachgehen und sich für lebendig halten, es aber nicht mehr sind, weil das Feuer ihrer ständigen Verwirrung
ihnen die Lebenskraft aus Leib und Seele gebrannt hat.«
    »Mir ist so seltsam zumute«, sagte Yu Lin auf einmal mit schwacher Stimme.
    Min Teng, der vor ihr ritt, wandte sich zu ihr um und betrachtete sie mit sorgenvollem Blick. »Was fehlt dir?«
    Ohne auf eine Antwort zu warten, sprang Min Teng von seinem Pferd, weil er sah, daß Yu Lin die Augen zufielen und sie sich nur mit Mühe aufrecht halten konnte – gerade noch rechtzeitig, um sie auffangen zu können, die gänzlich die Gewalt über ihren Körper verloren hatte und aus dem Sattel sank.
    Mit geschlossenen Augen lag sie in Min Tengs Armen, der von Sorge und Hilflosigkeit ergriffen wurde.
    Tschuang Tse stieg von seinem Pferd, ging zu Yu Lin, legte einen Finger auf ihre Halsschlagader und nickte Min Teng nach einer Weile beruhigend zu. »Ihr Herz schlägt regelmäßig. Es ist wohl nur ein Ohnmachtsanfall. Lege sie auf den Rücken, sie wird bestimmt bald wieder zu sich kommen.«
    Min Teng folgte Tschuang Tses Aufforderung und bettete Yu Lin behutsam auf eine moosbedeckte Stelle des Waldbodens am Wegesrand. Tschuang Tse band die Pferde an Baumstämme und kniete sich zu Min Teng ins Gras. Schweigend betrachteten sie Yu Lins regloses Gesicht, in das von einem Augenblick auf den anderen Bewegung kam. Ihr bis dahin ruhiger Atem beschleunigte sich, ihr Kopf bewegte sich unruhig hin und her, und
einmal stöhnte sie wie unter Schmerzen auf. Auf ihrer Stirn bildeten sich kleine Schweißtropfen.
    »Sie hat einen Alptraum«, murmelte Tschuang Tse.
    »Dann wecken wir sie!« Min Teng legte seine Arme auf Yu Lins Schultern, um sie wachzurütteln.
    »Nein!« erwiderte Tschuang Tse leise. »Störe sie nicht! Sie wird von selbst erwachen!«
    Min Teng zog nach kurzem Zögern seine Arme zurück. Es fiel ihm nicht leicht, Tschuang Tses Aufforderung zu folgen. Am liebsten hätte er Yu Lin aus den Qualen ihres Alptraums erlöst, doch Tschuang Tses Worte hatten trotz ihrer Sanftheit etwas ausgestrahlt, das keinen Widerspruch zuließ.
    »Können wir denn gar nichts tun?« fragte er dennoch.
    Tschuang Tse schüttelte den Kopf.
    Min Teng preßte seine Lippen aufeinander und versuchte, seiner wachsenden Unruhe und Sorge Herr zu werden.
    Zu seiner Erleichterung öffnete Yu Lin plötzlich ihre Augen, blickte erst ihn, dann Tschuang Tse an und stand unvermittelt auf.
    Auch die beiden Männer erhoben sich.
    »Was ist mit dir geschehen?« fragte Min Teng voller Erleichterung darüber, daß Yu Lin ihren Schwächeanfall überwunden hatte und so sicher auf ihren Beinen stand, als wäre nichts geschehen.
    Yu Lin atmete tief durch und wies auf den toten Baum am Wegesrand. »Als ich diesen Baum sah, wurde mir plötzlich schwindelig. Unwiderstehliche Müdigkeit erfaßte
mich. Ich versuchte, mich dagegen zu wehren, aber es gelang mir nicht. Tiefe, stille Dunkelheit ergriff mit Macht von mir Besitz, mir wurde schwarz vor den Augen. Dann auf einmal sah ich uns an diesem toten Baum vorbeireiten. Ich schwebte über uns dreien wie ein Vogel und sah alles von oben. Wegen der Enge des Weges ritten wir hintereinander: du, Tschuang Tse, vor mir, und du, Min Teng, hinter mir. Nach einer Weile machte der Weg eine Biegung nach Westen, und wir folgten ihm. Je länger wir ritten, desto mehr wuchs eine unerklärliche Angst in mir. Doch ich konnte nichts tun, nichts sagen, ich war nicht in mir, sondern betrachtete mich von oben wie eine fremde Frau, die ich selber war. Dann sah ich den Tiger! Von rechts schnellte er aus dem Unterholz mit gewaltigen Sätzen auf mich zu. Ich konnte mich nicht bewegen, war wie gelähmt vor Entsetzen. Alles ging so schnell! Du, Min Teng, sprangst von deinem Pferd, zogst deinen Dolch und warfst dich mit einem Schrei dem Tiger entgegen. Die Pferde stürmten vor Angst wild davon.
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