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Das Geschenk der Sterne

Das Geschenk der Sterne

Titel: Das Geschenk der Sterne
Autoren: Hans Kruppa
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Tschuang Tse und ich konnten uns nur mit Mühe in den Sätteln halten. Es gelang mir trotzdem, einen Blick zurückzuwerfen. Ich sah, wie der Tiger deinen leblosen Körper ins Unterholz schleifte. Er hatte dich getötet«, sagte Yu Lin.
    »Wir kehren sofort um!« entschied Tschuang Tse mit leiser, aber ungewohnt eindringlicher Stimme. »Steigt auf eure Pferde!«
    Die Flüchtlinge ritten so schnell zurück, wie der schmale Waldweg es ihnen ermöglichte, bis er sich nach
mehreren Meilen mit einem anderen Weg kreuzte. Sie wählten die Abzweigung nach Osten, die sich nach kurzer Zeit verbreiterte, so daß sie eine längere Zeit zügig reiten konnten, bis sie abermals auf eine Gabelung stießen, an der sie ihren Weg nach Norden wieder aufnahmen.
    Min Teng fragte sich, ob Yu Lin die unmittelbare Zukunft gesehen hatte, in der ihre Angst bestätigt worden war, daß der erste Mann, den sie liebte, wegen seiner Liebe zu ihr einen gewaltsamen Tod erlitt. Hatte die Gabe des Wahrträumens sie in einen Traum fallen lassen, der ihr offenbarte, wo und wann die Gefahr lauerte? Hatte dieser Traum ihr gerade noch rechtzeitig diejenige Stelle der unsicheren Brücke über dem tiefen Abgrund gezeigt, die unter ihrem Gewicht nachgegeben hätte, um sie vermeiden zu können? War es Yu Lin, die womöglich sein Leben gerettet hatte? War es ihre Gabe? War es der Himmel, der ihr diese Gabe geschenkt hatte? Oder war es das Tao, das alles im Himmel und auf der Erde lenkte?
    Nach und nach wurde es wieder ruhiger in Min Tengs Geist, in dem seine Gedanken wie eine Schar aufgescheuchter Vögel umherflatterten.
    Zurück blieb schließlich Stille – und die immer mehr zu einer Gewißheit werdende Ahnung, daß er einem tödlichen Schlag des Schicksals ausgewichen war, weil eine höhere Macht ihre schützende Hand über die Liebe gehalten hatte, die ihn mit Yu Lin verband.

DIE QUELLE DER WEISHEIT

    Da der eingeschlagene Waldweg sich als eben und breit erwies, konnten die Flüchtlinge lange ohne Unterbrechung im Trab und im Galopp reiten und einen weiteren großen Teil der Strecke zum Grenzfluß an einem Stück zurücklegen, ohne einer Menschenseele zu begegnen.
    Am Nachmittag hielten sie die erste und einzige Rast des Tages. Sie gingen mit ihren Pferden so weit ins Unterholz hinein, bis sie vom Weg aus nicht mehr zu sehen waren, und ließen sich am Ufer eines Baches nieder, der sich durch den Wald schlängelte.
    Nachdem sie die Pferde getränkt, an Baumstämmen festgebunden und schweigend von Mo Tschens Proviant gegessen und getrunken hatten, sahen sie, wie ein Fisch im Bach in die Höhe sprang, ins Wasser zurückfiel, ein
zweites Mal in die Höhe schnellte und wieder ins Wasser platschte.
    »Vor Jahren ging ich einmal mit meinem Freund Hui Tse am Ufer eines Flusses spazieren«, erinnerte sich Tschuang Tse. »Ich sagte zu ihm: ›Sieh nur, wie lustig die Fische aus dem Wasser herausspringen! Das ist die Freude der Fische!‹ Hui Tse, nie um eine Spitzfindigkeit verlegen, hielt mir entgegen: ›Du bist kein Fisch, wie willst du die Freude der Fische kennen?‹ Daraufhin erwiderte ich: ›Du bist nicht ich, wie willst du wissen, daß ich die Freude der Fische nicht kenne?‹ Hui Tse wiederholte seinen Einwand, daß ich kein Fisch sei und deshalb die Freude der Fische nicht kennen könne. Ich entgegnete, daß man kein Tier sein müsse, um die Freude eines Tieres zu erkennen.«
    »Ich dachte bislang immer, daß Fische aus dem Wasser in die Höhe springen, um Insekten zu fangen, die dicht über der Wasseroberfläche fliegen«, sagte Min Teng.
    »Und wenn es so wäre, würdest du sicherlich nicht abstreiten, daß es den Fischen Freude macht, auf diese Weise Nahrung zu erbeuten«, erwiderte Tschuang Tse mit einem Schmunzeln.
    Yu Lin lachte auf, und Min Teng atmete tief durch vor Erleichterung darüber, daß sie ihre Heiterkeit wiedergefunden hatte.
    »Wie endete dein Gespräch mit Hui Tse?« fragte er.
    »Ich bat ihn, zum Ausgangspunkt zurückzukehren! Er hatte mich gefragt, wie ich die Freude der Fische kennen
könne. Dabei wußte er ganz gut, daß ich sie kenne, und fragte mich dennoch. Also sagte ich ihm, was er ohnehin schon wußte: daß ich die Freude der Fische dank meiner eigenen Freude beim Wandern am Fluß kenne.«
    Tschuang Tses Blick schweifte mit offensichtlichem Entzücken über die Stämme und Kronen der Waldbäume, von denen viele eine beeindruckende Höhe erreicht hatten.
    »Du liebst Bäume!« stellte Yu Lin fest.
    Tschuang Tse nickte und
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