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Das Geschenk der Sterne

Das Geschenk der Sterne

Titel: Das Geschenk der Sterne
Autoren: Hans Kruppa
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Weile schweigend nebeneinander geritten waren, wandte sich Min Teng an Tschuang Tse: »Wie möchtest du, wenn der Tod dich aus dem Leben reißt, bestattet werden?«
    »Noch lebe ich, Min Teng, und jenseits des Flusses, den wir hoffentlich bald überqueren werden, kann ich ein weitaus höheres Alter erreichen als in diesem Land. Und wenn schließlich die Zeit der Heimkehr für mich kommt, ist es mir einerlei, wie ich bestattet werde. Himmel und Erde werden mein Sarg sein, Sonne und Mond mir als Totenlaternen leuchten, die Sterne werden meine Perlen und Edelsteine sein. Die ganze Schöpfung wird mir das Trauergeleit geben. Was können Menschen dem hinzufügen?«
    »Aber wenn du nach deinem Tod nicht beerdigt wirst, werden die Krähen und Weihen sich um deinen Körper streiten.«
    Tschuang Tse lächelte. »Wenn ich nicht beerdigt werde, wird mein Körper den Krähen und Weihen als Nahrung
dienen. Wenn ich beerdigt werde, werden sich die Würmer und Ameisen von meinem Leichnam ernähren. Den einen es nehmen, um es den anderen zu geben  – warum so parteiisch sein?«
    »Was bedeutet der Tod für dich?« fragte Yu Lin den Weisen.
    »Nach einem Leben in der heiteren Gelassenheit des Tao ist auch der Tod voll heiterer Gelassenheit.«
    Ohne weitere Worte zu wechseln, setzten die Flüchtlinge ihren Weg zügig fort und erreichten am späten Abend das Ziel ihrer Flucht: den Grenzfluß Hu Yong, in dessen Wasser sich das Licht des Mondes spiegelte.
    »So fließt alles dahin, wie dieser Fluß, ohne Aufenthalt, Tag und Nacht«, sagte Tschuang Tse.
    Umfangen von der tiefen Stille des Waldes, verharrten sie eine Weile am Ufer, als wollten sie sich von dem Reich Sung und allem, was sie damit verbunden hatte, endgültig verabschieden.
    Schließlich lenkten sie ihre Pferde in das seichte Wasser und überquerten den Grenzfluß.
    »Wir können von Glück reden, daß wir unversehrt ins Land Wei gelangt sind«, stellte Min Teng fest, nachdem sie das andere Ufer erreicht hatten.
    »Ja, das können wir«, stimmte Tschuang Tse zu.
    »Ich wußte, daß zumindest du am Ziel unserer Flucht ankommen würdest«, sagte Yu Lin zu dem Weisen. »Wie hättest du sonst das Buch schreiben können, das du eines Tages schreiben wirst?«
    »Wie kannst du dies wissen?« fragte Min Teng.

    »In dem Wahrtraum, den ich in der vorletzten Nacht hatte, haben die beiden Zwangsarbeiter von einer großen Bücherverbrennung gesprochen, die der Erste Erhabene Gottkaiser angeordnet hat.«
    »Ich erinnere mich daran«, bemerkte Tschuang Tse. »Wir sollten diesen erbärmlichen Schurken nicht Erster Erhabener Gottkaiser nennen. Nur ein verbrecherischer Tyrann läßt die geistigen Schätze seines Volkes verbrennen!«
    »Das war auch die Ansicht der beiden Männer. Sie waren über diese Bücherverbrennung maßlos empört, aber sie hatten die Hoffnung, daß es im neuen Großreich mutige Menschen gab, die ihr Leben aufs Spiel setzen würden, um zumindest die beiden bedeutendsten Bücher der Geschichte vor den Flammen zu retten.«
    »Welche Werke meinten sie damit?« fragte der Weise.
    Yu Lin lächelte und sagte: »Das Buch des Lao Tse und das Buch des Tschuang Tse.«

NACHWORT
    Man kann Tschuang Tse als einen Philosophen oder Denker, als einen Weisen oder Dichter bezeichnen, aber er war vor allem ein Mystiker, dem die unmittelbare Erfahrung der höchsten Wirklichkeit jenseits der Verstandesgrenzen zuteil wurde.
    Wie sein griechischer Zeitgenosse Diogenes hielt Tschuang Tse sich in seinem Empfinden, Denken und Handeln von der Gesellschaft und ihren Wertmaßstäben fern. Er betrachtete die Zwänge der Moral, der Pflichten und Bräuche als einen verhängnisvollen Irrweg und verschrieb sich einem freien, natürlichen und freudigen Leben in Einklang mit den ewigen Gesetzen der Natur: dem Tao.
    Tschuang Tse kleidete seine Erkenntnisse gern in Gleichnisse, kleine Erzählungen und philosophische Zwiegespräche. Das ihm zugeschriebene, größtenteils erst nach seinem Tod von Anhängern seiner Lebensanschauung zusammengetragene Werk Das wahre Buch vom südlichen Blütenland ist – nach dem Tao Te King von Lao Tse – die zweite Quelle, das zweite Hauptbuch des Taoismus, durch das die taoistische Mystik ihre volle Blüte erreichte.
    Das Tao Te King wird in diesem am Ende des vierten
Jahrhunderts vor unserer Zeitrechnung spielenden Roman stets als das Buch des Lao Tse bezeichnet, weil es erst etwa hundertfünfzig Jahre später den Titel Tao Te King von dem Kaiser Jing der Han-Dynastie
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