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Das Geheimnis des weißen Bandes

Das Geheimnis des weißen Bandes

Titel: Das Geheimnis des weißen Bandes
Autoren: Anthony Horowitz
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dass es solche Zwillinge schon seit Anbeginn aller Zeiten in der Mythologie gibt. Denken Sie nur an Romulus und Remus, Apoll und Artemis oder Castor und Pollux, die heute noch als Sternbild den nächtlichen Himmel zieren. Ein wenig von diesem Glanz muss auf die O’Donaghues abgefärbt haben. Es existierte der Glaube, dass sie niemals geschnappt werden, sondern mit jeder noch so dreisten Tat davonkommen würden.
    Als ich die Gemälde in Liverpool abschickte, wusste ich nicht das Geringste von der Flat Cap Gang – ich hatte noch nie von ihnen gehört, aber die beiden Brüder hatten offenbar just zu diesem Zeitpunkt einen Tipp erhalten, dass eine große Summe Bargeld von der American Bank Note Company in New York zur Massachusetts First National Bank in Boston gebracht werden sollte. Es solle sich um einhunderttausend Dollar handeln, so hieß es, und der Transport solle mit der Boston & Albany Railroad erfolgen. Manche sagen, dass Rourke der Vater des Gedankens war, andere glauben, dass Keelan der führende Kopf bei allen ihren Verbrechen war. Auf jeden Fall kamen die zwei zu dem Entschluss, den Zug vor Erreichen der Stadt anzuhalten und sich mit dem Bargeld davonzumachen.
    Raubüberfälle auf Züge waren im Wilden Westen Amerikas zwar immer noch an der Tagesordnung, in Gegenden wie Kalifornien und Arizona. Dass so etwas aber in den weitaus zivilisierteren Staaten der Ostküste stattfinden könnte, schien nachgerade undenkbar, und deshalb war auch nur ein einziger bewaffneter Wachmann an Bord, als der Zug den Grand Central Terminal in New York verließ. Die Banknoten befanden sich im Postwagen in einem Safe. Und durch einen elenden Zufall befand sich die Kiste mit den Gemälden im selben Waggon. Unser Agent, James Devoy, saß in der zweiten Klasse. Er war immer sehr eifrig in seiner Pflichterfüllung und hatte einen Platz gewählt, der den Gemälden so nahe wie möglich war.
    Der Ort, den die Flat Cap Gang für ihren Überfall gewählt hatte, lag kurz vor Pittsfield. Hier führten die Geleise relativ steil bergauf. Es gab einen zweihundert Meter langen Tunnel, und nach den Vorschriften der Eisenbahngesellschaft musste der Lokführer am Tunnelausgang stark bremsen, denn danach ging es abwärts zu einer schmalen Brücke. Der Zug kam deshalb ziemlich langsam aus dem Tunnel heraus, und es wareinfach genug für die Brüder O’Donaghue, auf das Dach des vordersten Wagens zu springen. Von hier aus kletterten sie über den Tender, und zur Überraschung des Heizers und des Lokführers erschienen sie plötzlich mit gezogenen Revolvern im Führerstand der Lokomotive.
    Sie zwangen die Besatzung, auf einer Lichtung zu halten, wo sie von Weymouthkiefern umgeben waren, die einen natürlichen Schutzschirm für ihr Verbrechen bildeten. Kelly, MacLean und die anderen Bandenmitglieder warteten dort mit Pferden und Dynamit, das sie in einem Steinbruch gestohlen hatten. Natürlich waren alle bewaffnet. Der Zug hielt an, und im selben Augenblick schlug Rourke den Lokführer bewusstlos, was eine schwere Gehirnerschütterung verursachte. Keelan, der wie immer kein Wort gesagt hatte, zog ein Seil hervor und fesselte den Heizer an eine Metallstrebe. Mittlerweile hatte der Rest der Bande den Zug geentert. Sie befahlen den Passagieren, still sitzen zu bleiben, dann näherten sie sich von außen dem Postwagen und befestigten Sprengladungen an den fest verschlossenen Türen.
    James Devoy hatte alles gesehen und ahnte, was kommen würde. Er dachte sich wohl, dass die Räuber nicht hinter den Constables her waren. Schließlich wusste ja kaum jemand, dass sie überhaupt existierten, und schon gar nicht, dass sie hier im Zug waren. Und selbst wenn jemand gebildet oder schlau genug gewesen wäre, um sie als Meisterwerke erkennen zu können, hätte er niemand gehabt, dem er sie verkaufen konnte. Während also die anderen Passagiere ängstlich auf ihren Sitzen klebten, verließ Devoy seinen Platz und stieg aus dem Zug, offenbar in der Absicht, mit den Bandenmitgliedern zu verhandeln. Ich vermute jedenfalls, dass er das wollte. Denn noch ehe er ein Wort sagen konnte, drehte sich Rourke O’Donaghue um und schoss ihn einfach nieder. Devoy wurde dreimal in die Brust getroffen und starb in seinem eigenen Blut.
    Der Wachmann im Inneren des Postwagens hatte die Schüsse gehört, und ich kann mir lebhaft vorstellen, welche schreckliche Angst er gehabt haben muss, als er hörte, wie die Bande an der Türe hantierte. Ob er sie aufgesperrt hätte, wenn es die
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