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Das Geheimnis des weißen Bandes

Das Geheimnis des weißen Bandes

Titel: Das Geheimnis des weißen Bandes
Autoren: Anthony Horowitz
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den Ofen, spielten Karten und tranken Gin. Einen Wachtposten hatten sie nicht aufgestellt. Keine der Familien in der Nachbarschaft hätte gewagt, sie zu verraten, und sie waren fest überzeugt, dass die Polizei am Diebstahl der zweitausend Dollar längst das Interesse verloren hatte. Sie ahnten nicht, dassMcParland und ein Dutzend bewaffneter Helfer das Gebäude umstellt hatten.
    Die Agenten von Pinkerton hatten Befehl, sie nach Möglichkeit lebend zu fassen, denn Stillman hoffte sehr, sie vor Gericht zu bringen. Außerdem wohnten viele Unschuldige in der Nähe, und schon deshalb war es wünschenswert, ein Feuergefecht zu vermeiden. Als seine Männer in Position waren, ergriff McParland das blecherne Sprachrohr, das er mitgebracht hatte, und forderte die Bande auf, sich zu ergeben. Aber die Hoffnung, dass die Flat Cap Gang so ohne weiteres die Waffen strecken würde, erwies sich als Illusion. Eine ganze Salve von Schüssen antwortete ihm. Die Zwillinge hatten sich zwar überraschen lassen, aber ohne einen Kampf würden sie nicht aufgeben. Eine Kaskade von Blei prasselte hinaus auf die Straße, nicht nur durch die Fenster, sondern auch durch eilig in die Wände geschlagene Löcher. Zwei von den Pinkerton-Leuten wurden niedergeschossen und auch McParland wurde verletzt, aber die anderen feuerten ohne Zögern zurück. Sie leerten ihre Revolver direkt in die Bretterbude. Man kann sich gar nicht vorstellen, wie es da drin gewesen sein muss, als Hunderte von Kugeln durch das dünne Holz krachten. Es gab kein Verstecken und kein Entrinnen.
    Als alles vorbei war, fand man im rauchgefüllten Inneren fünf in Stücke geschossene Männer, die alle dicht beieinander lagen. Der sechste Mann schien entkommen zu sein. Auf den ersten Blick schien das unmöglich, aber McParlands Informant hatte ihm versichert, die ganze Bande würde an diesem Abend versammelt sein, und während des Feuergefechts hatte er auch den Eindruck gehabt, dass sechs verschiedene Männer geschossen hatten. Die Räume wurden genauer durchsucht und das Rätsel gelöst. Eins der Bodenbretter war lose, und als sie es herausgenommen hatten, entdeckten sie einen Abwasserkanal, der unterdem Anbau zum Fluss führte. Keelan O’Donaghue war auf diesem Wege entkommen, obwohl es teuflisch eng gewesen sein muss, denn das Rohr war kaum groß genug für ein Kind, und keiner der Agenten von Pinkerton hatte Lust, es auszuprobieren. McParland ging mit ein paar Männern zum Fluss hinunter, aber mittlerweile war es stockdunkel und er wusste schon vorher, dass jede Suche vergeblich sein würde. Die Flat Cap Gang war vernichtet, aber einer ihrer Anführer war entkommen.
    Dies war das Ergebnis, das Cornelius Stillman mir an diesem Abend in meinem Hotel mitteilte, aber es ist noch keineswegs das Ende dieser Geschichte.
    Ich blieb noch eine weitere Woche in Boston, teils in der Hoffnung, dass Keelan O’Donaghue noch gefasst werden würde. Denn eine leichte Besorgnis war bei mir aufgekommen. Das heißt, vielleicht war sie schon vorher da gewesen, aber ich wurde mir dieser Befürchtung erst jetzt bewusst. Sie bezog sich auf diese verfluchte Anzeige, die ich bereits erwähnte und die auch meinen Namen trug. Stillman hatte damit öffentlich bekannt gemacht, dass ich eine der Parteien gewesen war, die zur Verfolgung der Flat Cap Gang aufgerufen hatte. Zum Zeitpunkt ihrer Veröffentlichung war ich durchaus stolz darauf gewesen, weil es ja um das Gemeinwohl ging und es mir zur Ehre gereichte, mit dem großen Mann zusammen erwähnt zu werden. Jetzt aber kam mir der Gedanke, dass es vielleicht nicht ganz ungefährlich gewesen war, einen Zwilling zu töten und den anderen weiterleben zu lassen, weil mich das zum potenziellen Ziel von Rachegelüsten des Überlebenden machte, besonders in einer Stadt, wo selbst die übelsten Verbrecher auf die Hilfe von Freunden und Bewunderern zählen konnten. Ich war deshalb ziemlich nervös, wenn ich mein Hotel verließ oder wieder betrat. In die wüsteren Teile Bostons wagte ich mich kaum noch, und nachts ging ich schon gar nicht mehr aus.
    Keelan O’Donaghue wurde nicht gefasst, und es gab sogar etliche Zweifel, ob er überhaupt überlebt hatte. Er hätte ja angeschossen worden und irgendwo unter der Erde an Blutverlust gestorben sein können wie eine Ratte. Er hätte auch ertrunken sein können. Stillman schien davon fest überzeugt, als wir uns das letzte Mal sahen, aber er war natürlich einer von jenen Menschen, die niemals zugeben würden, dass sie
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