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Das Geheimnis des weißen Bandes

Das Geheimnis des weißen Bandes

Titel: Das Geheimnis des weißen Bandes
Autoren: Anthony Horowitz
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erklärte, meine Galerie in der Albemarle Street zu besuchen. Mr. Finch und ich verbrachten viele Stunden in seiner Gesellschaft, zeigten ihm unseren Katalog und alle Bestände an Bildern, die wir kürzlich auf Auktionen und bei anderen Gelegenheiten im ganzen Lande gekauft hatten. Das Ergebnis war, dass er Werke von Romney, Stubbs und Lawrence erwarb, vor allem aber auch vier zusammengehörige Landschaftsbilder von Constable, der ganze Stolz unserer Sammlung. Es handelte sich um Ansichten aus dem Lake District, die aus dem Jahre 1806 stammten und ganz anders waren als der übliche Constable-Kanon. Sie waren von einer ganz außergewöhnlichen Beseeltheit und Stimmung, und Mr. Stillman versprach, dass sie einen eigenen, großen, gut beleuchteten Raum in seiner Kunstausstellung erhalten würden, der eigens dafür gebaut werden sollte. Wir trennten uns im besten Einvernehmen. Und im Licht der weiteren Ereignisse sollte ich wohl erwähnen, dass ich anschließend eine sehr nennenswerte Summe bei meiner Bank einzahlte. Mr. Finch erklärte sogar, dass dies wohl die erfolgreichste Transaktion unseres Lebens gewesen sein dürfte.
    Jetzt ging es nur noch darum, die Gemälde nach Boston zu schicken. Sie wurden sorgfältig in mehrere Schichten von Papier und Stoff eingehüllt und in eine robuste Kiste gepackt und mit der White Star Line von Liverpool nach New York expediert. Eigentlich hatten wir sie mit der RMS Adventurer direkt nach Boston schicken wollen, aber einer jener schicksalhaften Zufälle, die im ersten Augenblick ganz unbedeutend erscheinen, einen später aber noch lange verfolgen, hatte bewirkt, dass wir die Abfahrt des Schiffes um wenige Stunden verpassten und ein anderes wählen mussten. Unser Agent, ein aufgeweckter junger Mann namens James Devoy, nahm die Sendung in New York in Empfang und begleitete sie auf ihrer Weiterreise mit der Boston & Albany Railroad – einer Strecke von zweihundertneunzig Meilen.
    Aber die Bilder kamen nie an.
    Es gab damals in Boston zahlreiche Banden, die vor allem im Norden der Stadt, in Charlestown und Somerville, aktiv waren. Viele von ihnen hatten fantasievolle Namen wie zum Beispiel Dead Rabbits oder Forty Thieves und stammten ursprünglich aus Irland. Es ist sehr traurig, wenn man sich vorstellt, dass sie den Willkommensgruß dieses herrlichen Landes mit Gewalt und Verbrechen erwiderten, aber so war es nun einmal, und die Polizei schien nicht in der Lage, sie vor Gericht oder wenigstens unter Kontrolle zu bringen. Eine der aktivsten und gefährlichsten Banden war die Flat Cap Gang, deren Anführer zwei irische Zwillinge waren, die Brüder Rourke und Keelan O’Donaghue, die ursprünglich aus Belfast stammten. Ich werde versuchen, Ihnen diese beiden Teufel so gut wie möglich zu beschreiben, denn sie stehen im Mittelpunkt dessen, was ich Ihnen berichten muss.
    Die beiden traten immer zusammen auf, und niemand hatte den einen je ohne den anderen gesehen. Rourke war der größerevon den beiden, breitschultrig und mit einem gewaltigen Brustkorb, immer bereit, seine schweren Fäuste zu heben und zuzuschlagen. Es hieß, dass er schon mit sechzehn einen Mann beim Kartenspielen zu Tode geprügelt hatte. Sein Zwillingsbruder stand weitestgehend in seinem Schatten, er war viel kleiner und stiller. Genau genommen sprach er fast überhaupt nicht – man hörte sogar das Gerücht, dass er stumm sei. Rourke war bärtig, Keelan war glatt rasiert. Beide trugen flache Mützen, und daher bezog die Bande den Namen. Es wurde immer wieder behauptet, sie hätten sich die Initialen des jeweils anderen in den Arm tätowieren lassen, und es war offensichtlich, dass sie in jeder Hinsicht absolut unzertrennlich waren.
    Bei den anderen Bandenmitgliedern genügen vielleicht schon die Namen, um Ihnen alles zu sagen, was Sie von ihnen zu wissen wünschen. Da gab es einen Frank »Mad Dog« Kelly und einen Patrick »Razors« MacLean. Wieder ein anderer hieß »The Ghost« und wurde gefürchtet wie ein übernatürliches Wesen. Sie waren in jede denkbare Form des Verbrechens verwickelt, aber ihre Spezialitäten waren Einbrüche, Schutzgelderpressung und Straßenraub. Dennoch standen sie in hohem Ansehen bei vielen ärmeren Einwohnern der Stadt, die offenbar nicht sehen wollten, dass es sich um eine Pest und ein Krebsgeschwür der Gesellschaft handelte. Für sie waren es keine Verbrecher, sondern Außenseiter, die einem herzlosen System den Krieg erklärt hatten. Ich brauche Sie gewiss nicht darauf hinzuweisen,
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