Das Geheimnis der versteinerten Traeume

später?«
    Sie kniff ihn, dass es schmerzte. »Du unromantischer Klotz. Nach Salem haben wir beide an der Illúsischen Universität Allgemeine Traumkunde und im Nebenfach Oneirologie studiert.«

    »Traumdeutung? Klingt beeindruckend.«
    »Bei deinem Talent sicher passend. Du bist der erstaunlichste Traumwandler, den die Welt je gesehen hat.«
    »Was du nicht sagst!«
    Sie klatschte ihre Hand auf seine Brust. »Sind wir jetzt fertig?«
    »Nicht ganz. Was ist das für eine Legende, die mich zum Nationalschatz gemacht hat?«
    »Sie besagt, dass in alter Zeit während einer Sonnenfinsternis ein Knabe hoch in den Wolken mit einem Luftgeist kämpfte. Beide fielen zur Erde hinab. Das Kind verwandelte sich in eine Sternschnuppe, die man Te Pito o te Henua nannte. Bis in unsere Tage glaubten die Illúsier, das Himmelskind werde irgendwann wieder erwachen und die Welt in eine bessere Zukunft führen.«
    Leo schob seine Hand durch Orlas Halsbeuge und legte sie ihr um die Schulter. Allein so etwas tun zu können, erfüllte ihn mit unbeschreiblicher Freude. »Ich glaube, die bessere Zukunft hat schon begonnen. Was ist aus dem Dämon geworden?«
    »Der Legende nach war er hinfort in der Gestalt eines Narren gefangen, der ein Menschenalter lang rastlos auf der Insel umherirrte. Eines Tages erstarrte er zu Stein. Die alten Wächter nannten ihn Hoa Hakananai’a  – ›Gestohlener Freund‹.«
    »Ich finde, das passt. Er war einer von ihnen, ehe er sich über sie erhob.«
    »Was weißt du denn darüber? Die steinerne Figur ist den Gelehrten bis heute ein Rätsel. Sie besteht aus Basalt und unterscheidet sich auch sonst von den üblichen Moais. Manche halten ihn für den Urtyp der klassischen Statuen.«
    »In gewisser Hinsicht stimmt das wohl«, sagte Leo gedankenvoll.
    Orla wälzte sich auf ihn und blickte ihn ernst an. »Allmählich
wird mir dieses Spiel unheimlich. Du tust ja fast so, als wärst du tatsächlich das Himmelskind.«
    Ein Zittern ging durch seinen Körper. Sie hatte ein Recht auf die Wahrheit. Aber würde sie ihn dann noch lieben? Er glaubte seine Geschichte ja selbst kaum. Leo schloss die Augen und schluckte. »Ich kann mich nicht konzentrieren, wenn du auf mir drauf liegst.«
    »Das merke ich«, sagte sie schmunzelnd und rutschte wieder von ihm herunter. Ihre Hand blieb über seinem Herzen und klopfte im Rhythmus der Worte. »Leo. Irgendetwas stimmt doch nicht mit dir. Ich bin deine Frau. Sag mir, was los ist.«
    Er sah sie lange an, ehe er genügend Mut gesammelt hatte, ihr seine Geschichte zu erzählen. Bei jedem Satz fürchtete er, Orla könnte sich von ihm zurückziehen, zu befremdend musste das Ganze für sie klingen. Stattdessen legte sie irgendwann ihre Wange auf seine Brust und lauschte zugleich seiner Stimme und dem heftig pochenden Herzen.
    »Alles passt zusammen«, sagte sie eine Weile, nachdem er verstummt war. »Die alten Legenden. Deine Verwirrtheit, als man dich am Strand fand. Die Liebe deiner Eltern, die scheinbar wie aus dem Nichts entstanden war.«
    Er fuhr spielerisch mit den Fingern durch ihr schwarzes Haar. »Und dass wir zwei wieder zueinandergefunden haben.«
    Sie hob unvermittelt den Kopf und küsste ihn zärtlich auf den Mund. Er drückte sie an sich und Tränen des Glücks rannen ihm übers Gesicht. Orlas warme Lippen auf den seinen zu spüren, ließ ihn gleichsam erneut vom Himmel fallen. Diesmal war es jedoch kein bedrohlicher Sturz, sondern eher ein Hineingleiten in die verlorenen Erinnerungen. Es brachte ihn sanft auf die Erde zurück. In ein neues Leben und eine bessere Zukunft. Hoffentlich nutzte die Menschheit ihre zweite Chance.

Ralf Isau wurde 1956 in Berlin geboren. Fantastische Erzählungen begeisterten ihn schon früh, aber sein Interesse für Naturwissenschaft und Technik führte ihn zunächst in die Informatik. Während er in der EDV-Branche arbeitete, schrieb und veröffentlichte er mehrere Romane für Kinder, Jugendliche und Erwachsene, u. a. die mittlerweile legendäre Neschan- Trilogie. 2002 hängte er die Informatik an den Nagel und widmet sich seitdem ganz der Schriftstellerei.
    Inzwischen gilt Ralf Isau als einer der großen fantastischen Autoren Deutschlands. Er hat über 30 Bücher veröffentlicht, und seine Werke wurden in fünfzehn Sprachen übersetzt und mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet. Ralf Isau lebt mit seiner Frau bei Stuttgart.
     
    Mehr über den Autor unter www.isau.de

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