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Das Geheimnis der versteinerten Traeume

Das Geheimnis der versteinerten Traeume

Titel: Das Geheimnis der versteinerten Traeume
Autoren: Ralf Isau
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war der bisherige Höhepunkt. Wie wurde er das Ding wieder los?
    Ungefähr eine halbe Stunde lang brütete er über dem Entsorgungsproblem und entschied sich schließlich für die Zwischenlagerung des Kupfervogels in der Remise. Früher hatten in dem Schuppen Pferdekutschen gestanden, heute beherbergte er die zwei Wagen seiner Eltern und Emanouels Projekte. Wohlmeinende
Zeitgenossen würden selbige für ausgemusterte Theaterkulissen oder Altmetall halten, Leos Mutter nannte es »Gerümpelkitsch«, sein Vater sprach von »Kunstwerken im Dornröschenschlaf«. Er fühlte sich dazu berufen, diese Königstöchter wachzuküssen. Gewöhnlich blieben die mit Feuereifer begonnenen Restaurierungsvorhaben unverwirklicht, weil die Firma seine Zeit und Kraft verschlang oder Severina die Dekostücke ächtete. Zwischen den Geschmacklosigkeiten, die sie in die Remise verbannt hatte, fiel der Kupfervogel garantiert nicht auf.
    Nun, da er einen Plan hatte, fühlte sich Leo gleich viel besser. Endlich wagte er sich aus dem Bett. Er schlurfte ins Bad und betrachtete sich im Spiegel. Die nächtliche Exkursion aufs Kirchendach hatte äußerlich keine Spuren hinterlassen. Seine Mutter behauptete immer, er sei ein hübscher Bursche, ein richtiger kleiner Adonis, der das Beste von zwei Völkern in sich vereine: die Wildheit der Nordvölker und das Edle der alten Hellenen. Ihre maßlosen Übertreibungen nervten ihn. Eigentlich fand er sich eher hässlich.
    Die Verwirbelungen, die seinen braunen Haarschopf wie ein Kornfeld nach einem Sommergewitter aussehen ließen, verbuchte er als Geburtsfehler. Sein Gesicht war schmal und hatte ausgeprägte Wangenknochen. Die gerade Nase verleihe ihm etwas Vornehmes, behauptete Severina. Nach Leos Geschmack war sie einen Tick zu lang. Das alberne Grübchen auf dem Kinn verdankte er dem griechischen Familienzweig. Gut, die Augen, die waren okay: ausdrucksstark, groß, braun, mit Wimpern, um die ihn die Mädchen beneideten. Seine schlaksige Statur täuschte ein wenig über den Mangel an Wachstumshormonen hinweg. Wenigstens war er mit einem Meter zweiundsiebzigeinhalb noch kein Zwerg.

    Er spritzte sich Wasser ins Gesicht, um die Lebensgeister zu wecken. Allmählich kam er in Fahrt. Schwungvoll angelte er die Jeans von der Stuhllehne und das rote T-Shirt von der Stehlampe, zog flugs den mit »L« gekennzeichneten blauen Socken auf den rechten Fuß und fand nach einigem Suchen den mit »R« markierten im Aquarium. Weil er nasse Strümpfe an den Füßen nicht mochte, zog er links einfach einen grünen an.
    Leise wie ein Einbrecher öffnete er die Tür seines Zimmers. Es lag im ersten Stock der alten Villa, die ursprünglich einem Hamburger Kaffeebaron gehört hatte. Leo lauschte, ob er seine Mutter telefonieren hörte. Im Haus war es still. Vermutlich kämpfte sie aushäusig für den Artenschutz. Elena, die griechische Hausangestellte, hatte montags sowieso ihren freien Tag. Er schlich sich über die hölzerne Treppe zur Diele nach unten und rief nach seiner Mutter. Niemand antwortete. Glück gehabt!
    Rasch kehrte er wieder in sein Zimmer zurück, zog dem Wetterhahn einen alten Tennispullover seines Vaters an (in Leos Sweatshirts passte der Vogel nicht hinein) und schleppte ihn aus dem Haus. Das Gartengrundstück war von außen kaum einsehbar, was ihm nur recht sein konnte. Es lag zwischen der stark befahrenen Elbchaussee, wo eine efeubewachsene Mauer es vor dem Verkehrslärm schützte, und dem parallel dazu verlaufenden Zypressenweg, einer ruhigen Sackgasse. Hier, gleich neben der Zufahrt und ungefähr zwanzig Meter vom Wohnhaus entfernt, stand vor einer dichten Hecke die Remise.
    Leo wankte mit seiner Last die Auffahrt hinab. Über den alten Bäumen hing die Morgensonne und bewarf ihn mit tanzenden Tupfen aus Licht. Er ächzte wie ein Schauermann. Mehrmals musste er den schweren Vogel absetzen, ehe er endlich das mit roten Ziegeln gedeckte Nebengebäude erreichte. Das Remisentor war unverschlossen. Als er es öffnete, kreischte es, als wolle
es gegen sein Vorhaben aufbegehren. Er ignorierte den Protest, hievte den Kupfervogel hinein und sperrte hinter sich zu.
    Zwei Paar kleine Sprossenfenster sorgten für die stimmungsvolle Ausleuchtung seines zwielichtigen Treibens. Er kam sich vor wie ein Museumsdieb beim Verstecken der Beute. Sein Blick erklomm die Zwischendecke unter dem flachen Spitzdach. Sie erstreckte sich über zirka Dreiviertel der Gebäudelänge. Dort hinauf musste Emanouel das Gelumpe schaffen, das
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