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Das Geheimnis der versteinerten Traeume

Das Geheimnis der versteinerten Traeume

Titel: Das Geheimnis der versteinerten Traeume
Autoren: Ralf Isau
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Severina mit dem stärksten Bann belegt hatte, weil ihr angeblich schon der Anblick Brechreiz verursachte – der »Kotzübeltrödel«, wie Leo ihn insgeheim nannte. Er nickte. Das ideale Zwischenlager für den Traummüll.
    Links an der Wand hing eine Holzleiter. Er nahm sie von den Eisenhaken, riss sich einen Splitter ein und lehnte sie an die Kante der aus Bohlen gezimmerten Decke. Weil ein Wetterhahn in einem weißen Tennispullover nur unnötig Aufmerksamkeit erregte, entkleidete Leo die Figur. Hierauf stemmte er sie hoch und ließ sie gegen die Holme der Leiter sinken, um sie beim Aufstieg vor sich her zu schieben. Nach zwei Sprossen war klar, dass ihn das schwere Federvieh erschlagen würde, bevor er es auf den Dachboden hinaufbekam.
    »Mist!«, keuchte er und setzte den Vogel wieder ab. Er sollte sich dringend etwas einfallen lassen, ehe seine Mutter nach Hause kam. Wie war das noch gleich bei den ägyptischen Pyramiden? Im Schulunterricht hatte er gelernt, dass die frühgeschichtliche Baukunst auf schiefen Ebenen, Seilen und Menschenkraft basierte. Was bei einer Sphinx funktioniert hat, müsste doch auch einem verflixten Gockel Flügel verleihen.
    Nach kurzer Suche im hinteren Teil der Remise wurde Leo fündig und kehrte mit einem Strick zurück. Das eine Ende knotete er unterhalb des Morgensternes fest, mit dem anderen erklomm
er die Leiter. Die Bevölkerungsdichte auf dem Speicher war überraschend gestiegen, seit er das letzte Mal Vaters Kuriositätenkabinett durchstöbert hatte. Eingezwängt zwischen einem Blechdrachen und einer Vogelscheuche begann Leo den Kupfervogel nach hoben zu hieven; die geneigten Leiterholme dienten ihm dabei als Schienen. Ja, so ging es besser.
    Über der elenden Plackerei gelangte er zu dem Schluss, dass Außerirdische die Cheopspyramide errichtet haben mussten. Alles andere wäre eine Zumutung gewesen. Während er keuchte und schwitzte, beobachteten aus den Schatten in seinem Rücken Zwerge, schlangenhäuptige Gorgonen und eine barbusige Gipsgöttin das Geschehen. Als der Morgenstern gerade über dem Horizont des Dachbodens aufging, kreischte die Remisentür.
    Leo war vor lauter Keuchen und Ächzen völlig entgangen, dass jemand sie aufgeschlossen hatte. Entsetzt blickte er nach unten. Im sonnendurchfluteten Eingang stand eine Gestalt, die im Schattenriss eine deutliche Neigung zum Übergewicht erkennen ließ. Es schien sie zu überraschen, was sie da sah: einen Jungen mit einem straff gespannten Seil in den Händen, an dem der kupferne Wetterhahn der Kreuzkirche von Ottensen hing.
    »Papa?«, fragte Leo ungläubig. Vor Schreck entglitt ihm der Strick, der Kupfervogel rumpelte die Leiter hinab, schepperte über den steinernen Boden und kam direkt vor Emanouel Leonidas’ Füßen zum Stehen – ganz sacht berührte der Morgenstern noch seine Zehenspitzen.
    »Au!«, rief Leos Vater. »Was um Himmels willen treibst du hier?«
    »Ich … äh … ich habe dir den Kupfergockel vom Kirchendach geholt. Stell ihn doch in den Garten neben die Gipsfigur vom Diskuswerfer.«

    »Bist du von allen guten Geistern verlassen? Du kannst doch nicht einfach …« Emanouel schüttelte fassungslos den Kopf.
    Ein Versuch war’s wert, dachte Leo und verzog das Gesicht.
    Sein Vater bückte sich, um das Corpus Delicti genauer in Augenschein zu nehmen. »Schönes Stück. Ist das wirklich die Wetterfahne von der Kreuzkirche in Ottensen?«
    Leo nickte aus sicherer Höhe herab. Sein Vater hatte die ersten Jahre seines Lebens in Griechenland verbracht, wo man von laxer Kindererziehung nicht viel hielt. Auch nach dem Umzug der Leonidas’ nach Deutschland war Opa Kostas ein Kritiker der antiautoritären Erziehungsmethoden geblieben. Trotz Zeitmangels schaffte es Emanouel immer wieder, den ihm wichtigen Wertekodex der Familie im Alltag aufblitzen zu lassen. Vor allem in Momenten wie diesem.
    Er zitierte seinen Sohn mithilfe eines hektisch zappelnden Zeigefingers zu sich und sagte: »Komm bitte mal da runter. Ich muss mit dir reden.«
    Leo stieg die Leiter hinab, riss sich einen zweiten Splitter ein und schlich zu seinem Vater.
    »Du hast mir den Hahn nicht wirklich für den Garten beschafft?« , fragte der.
    Mehr als ein klägliches Kopfschütteln brachte Leo nicht zustande.
    »Mich würde interessieren, wie du das angestellt hast. Rein vom logistischen Standpunkt aus, meine ich. Die Wetterfahne war auf einem Kirchendach, vermutlich gut befestigt, und ziemlich schwer dürfte sie obendrein sein. Wie hast
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