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Das Geheimnis der Jadefigur (German Edition)

Das Geheimnis der Jadefigur (German Edition)

Titel: Das Geheimnis der Jadefigur (German Edition)
Autoren: Christel Mouchard
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Miss Melly
    »Raten Sie, wie alt ich bin!«
    Miss Melly antwortete nicht sofort. Sie betrachtete das junge Mädchen, das auf dem riesigen Ozeandampfer an der Reling lehnte. Nina war groß, genauso groß wie sie. Aber ihre rundlichen Wangen, ihre roten Zöpfe und ihre Kniestrümpfe ließen sie aussehen, als käme sie direkt aus der Grundschule.
    »Du bist ein lustiges kleines Mädchen!«, amüsierte sich Miss Melly. »
Kleines Mädchen
«, brummte Nina. »Passen Sie auf, was Sie sagen: Ich bin fünfzehn Jahre alt!«
    Sie kniff die Augen zusammen, um das Gesicht der jungen Frau besser zu ergründen. Der Seewind zwang Miss Melly, mit der einen Hand ihren Hut und mit der anderen die Falten ihres Kleides zusammenzuhalten. Es war einer dieser riesigen Hüte, die man in jenem Jahr 1912 trug. Nina träumte davon, einen zu besitzen, doch sie war noch zu jung dafür. Sie durfte nur Kleider mit Matrosenkragen tragen, die bis zu den Waden reichten. Ihr eigener Hut glich einer Kuchenform, die von einem Band zusammengehalten wurde.
    »Und Sie?«, fragte sie. »Wie alt sind Sie?«
    Miss Melly lachte laut auf.
    »Nun bist du dran! Rate!«
    »Sie sind Lehrerin. Lehrer sind …«
    Nina hätte beinahe gesagt: »Lehrer sind immer alt.« Doch sie wollte ausnahmsweise nicht unverschämt sein. Sie hatte gerade Miss Mellys Bekanntschaft gemacht, und sie mochte sie gern, diese Lehrerin.
    Miss Melly und Nina teilten sich auf dem Passagierdampfer eine Kabine mit zwei Kojen, unfreiwillig. Sie hatten sich nicht gekannt, bevor sie an Bord des Schiffes gegangen waren, und beide hatten einfach nicht genügend Geld, um sich eine Einzelkabine leisten zu können.
    Miss Melly war als Erste an Ort und Stelle eingetroffen. Nachdem sie ihr Schminktäschchen neben die Waschschüssel aus Emaille gestellt hatte, hatte sie ihre Bücher auf dem kleinen Regal an der Wand neben dem Bullauge aufgereiht. Dann wurde die Tür geöffnet und vor ihr stand eine Schülerin mit Zöpfen und Matrosenkragen, die ihren Kleidern ein Stück weit entwachsen war.
    »Puh, das ist aber warm hier!«, hatte das Mädchen ausgerufen, während ein Träger ihren Reisekoffer in einer Ecke der Kabine neben dem von Miss Melly abstellte.
    Sie war über das Alter ihrer Kabinengenossin erstaunt, gleichzeitig aber auch erleichtert: Es wäre einfacher, die Kabine mit einem Kind als mit einer alten Dame zu teilen.
    Doch eine halbe Stunde später hatte sie ihre Meinung geändert. Nina hatte ihren Reisekoffer geöffnet und sich damit beschäftigt, ein Sommerkleid auszuwählen. Die Hälfte ihrer Kleidungsstücke war in der Kabine verteilt; überall lag etwas herum, auf der Bettdecke, auf dem Garderobenständer, auf der Waschschüssel und sogar auf dem Griff des Bullauges! Nina war dabei, das Band ihres Hutes unter dem Kinn zuzubinden, als Miss Melly die Stirn runzelte und mit einem autoritären Zeigefinger auf die Unordnung zeigte.
    »Ich bitte dich, deine Kleider wegzuräumen, bevor du die Kabine verlässt.«
    Nina hatte sich nicht aus der Fassung bringen lassen – sie ließ sich nie aus der Fassung bringen.
    »Ich wette, dass Sie Lehrerin sind!«, hatte sie schlagfertig geantwortet.
    »Und ich wette, dass du ein Faulpelz bist!«
    Sie hatten sich einige Sekunden lang mit Blicken gemessen, beide gleichermaßen wütend, dann hatte Nina laut aufgelacht.
    »Einverstanden! Da wir einen Monat gemeinsam in diesem Raum verbringen werden, ist es wohl besser, dass ich nicht querköpfig bin, was?«
    »Ich rate es dir!«
    Nina hatte also angefangen, ihre Sachen zusammenzusammeln. Sie schnappte ihre Kleider, rollte sie zu einer Kugel und machte sich an den Reisekoffern zu schaffen: Sie packte Dinge aus, stellte welche zurück und verschob einige, betrachtete sie und stopfte sie mit einer schnellen Handbewegung in eine Ecke.
    Währenddessen zog sich Miss Melly ihrerseits um – die Hitze in der Kabine nahm unablässig zu, und durch das Bullauge sah man den glühend weißen Himmel von Marseille. Als sie ihr Korsett anzog, hielt Nina inne und setzte sich hin, um das Manöver zu beobachten.
    »Könntest du nicht woanders hinschauen?«, fuhr die junge Frau sie an, während sie an den Schnüren zog. »Es ist sehr taktlos, was du da tust.«
    »Oh, Entschuldigung. Ich fragte mich nur, wie Sie es machen, so ein in der Taille eng geschnürtes Ding zu tragen. Um sich hinzusetzen, muss man ganz schön Übung haben!«
    »Ich gebe zu, es ist nicht sehr komfortabel, aber so ist die Mode eben. Findest du nicht, dass eine
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