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Das Geheimnis der Jadefigur (German Edition)

Das Geheimnis der Jadefigur (German Edition)

Titel: Das Geheimnis der Jadefigur (German Edition)
Autoren: Christel Mouchard
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lagen die Briefe ihres Vaters, die sie Miss Melly hatte lesen lassen, und daneben eine in ein Hemd gerollte Gipsfigur. Nina streichelte sie unbeholfen.
    »Wenn ich mir vorstelle, dass ich dich hätte gehen lassen«, sagte sie zu der kleinen Heiligen Jungfrau und betrachtete die weiß und blau angemalte Figur mit ihren rosa Wangen und den beiden gelben Blüten an den Füßen.
    Diese kleine Madonna aus Gips besaß sie seit ihrem fünften Lebensjahr; ihre Mutter hatte sie ihr bei einem Ausflug nach Lourdes geschenkt. Ihr Vater hatte die Pilger fotografiert, während ihre Mutter und sie die Stadt besichtigten. Als sie ihr dieses Andenken kaufte, hatte ihre Mutter zu ihr gesagt: »Die Heilige Jungfrau Maria ist eine Mutter. Wie ich. Durch sie werde ich immer ganz bei dir sein.«
    Diese Worte hatten einen neuen Sinn erhalten, seit ihre Mutter vor einem Jahr gestorben war. Nina hatte sich nie von ihrer kleinen angemalten Jungfrau getrennt; manchmal legte sie sie sogar neben sich auf ihr Bett, wenn sie traurig war. In diesem Augenblick, in dem sie eine so folgenschwere Entscheidung traf, erschien sie ihr kostbarer denn je.
    »Ich verlasse mich darauf dass du mich beschützt, kleine Mutter«, sagte sie zu ihr und ließ sie zusammen mit den Briefen ihres Vaters unter ihr Kopfkissen gleiten.
    Jetzt konnte der Koffer abgeholt werden. Sie trat auf den Flur hinaus. Der Mann wartete mit einer Pfeife im Mund an die Wand gelehnt.
    »Sie können kommen und ihn mitnehmen«, sagte Nina zu ihm. »Nehmen Sie nicht den falschen mit, der Name steht auf dem Schild:
Miss Mélanie Bell

    Die Würfel waren gefallen. Die Schiffssirene ertönte. Es war schon eine gute Weile her, dass der Koffer abgeholt worden war, und jetzt legte der Dampfer endlich ab und verließ den Hafen von Saigon, auf dem Weg gen Norden, in Richtung Annam. Nina war allein und fuhr einer bedrohlichen Ungewissheit entgegen. Dennoch bereute sie nicht, was sie getan hatte. Nicht einmal das, was Miss Melly anging. Was sie wohl denken würde, wenn sie ihren Koffer öffnete und die alten Klamotten von Nina fand? Sie würde ihr schreiben. Sie würde ihr erklären, warum sie ihre schönen Kleider an sich genommen und ihr im Tausch dafür die geflickten Strümpfe und wenig eleganten Hemden gelassen hatte.
    Sie wartete eine ganze Weile, eingeschlossen in ihre Kabine, die Arme um den Kopf geschlungen, den sie auf die angezogenen Knie gelegt hatte. Inzwischen hatte das Schiff das offene Meer erreicht, aber sie fürchtete sich immer noch davor, dass Miss Melly plötzlich mit gerunzelter Stirn vor ihr auftauchen und sagen könnte: »Nina, du bist eine Diebin!«
    Geräusche über ihrem Kopf rissen sie aus ihrer Benommenheit. Die Passagiere der ersten Klasse gingen zum Mittagessen. Sie stellte fest, dass sie ebenfalls Hunger hatte. Es wurde langsam Zeit, ihr Schlupfloch zu verlassen. Und ihren Plan in die Tat umzusetzen.
    Der Augenblick der Entscheidung näherte sich: Was würde man sagen, wenn man sie aus ihrer Kabine herauskommen sähe? Ein junges Mädchen, plötzlich zur Frau geworden, wie eine Raupe, die unvermittelt ein Schmetterling geworden war. Würde man sie erkennen? Nicht sehr wahrscheinlich, denn Miss Melly und sie hatten zu niemandem Kontakt gehabt. Und ihre Freundin hatte ihr Gesicht außerhalb der Kabine immer mit einem kleinen Schleier verhüllt. Sie hatte also allen Grund zur Hoffnung, dass es gutgehen könnte.
    Nina öffnete den Reisekoffer. Wie geordnet alles war!
    Mit vor Erregung glänzenden Augen machte sie eine erste Bestandsaufnahme. Vorsichtig nahm sie jeden der neuen Schätze einzeln aus dem Koffer und betrachtete ihn. Zuoberst fand sie die Hemden aus Kattun und die Korsetts.
    In einem Fach auf der rechten Seite war das Nähzeug, zusammen mit einer kleinen goldenen Schere und einem Nadelkissen aus rosa Samt.
    Dann ein Fächer aus bemalter Seide, auf dem Schwalben flatterten. Daneben die Utensilien zum Frisieren mit vielen Bändern und Haarnetzen, ein Spiegel und eine Bürste mit Elfenbeingriff, fein gearbeitete Kämme aus Schildplatt …
    In einem anderen Fach fand sie drei Kartons, in denen weite, in Tüll eingepackte Hüte geschützt ruhten. Darüber lagen die Stiefeletten und ein Paar Halbschuhe aus zartem anthrazitfarbenem Leder.
    Die Seidenstrümpfe waren sorgfältig gefaltet in einem Satinbeutel, der mit einer Kordel zugeschnürt war. Zwei Paare wurden von einer Naht geziert, die seitlich am Bein entlanglief. Nina stellte sich Miss Melly vor: stundenlang
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