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Portugiesische Eröffnung

Portugiesische Eröffnung

Titel: Portugiesische Eröffnung
Autoren: Jenny Siler
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Eins
    Zu Hause, dachte Sabri Kanj, als die Maschine aufsetzte und die gewaltigen Motoren noch einmal aufheulten und zur Ruhe kamen. Zu Hause. Fairuz im Radio, seine Mutter, die in der Küche mitsang. Lammwürstchen auf dem Grill. Sich erinnern, um zu überleben, hatte sein Freund Khalid es einmal genannt und dabei aus Erfahrung gesprochen. Die Erinnerungen konnten sie einem nicht nehmen.
    Das Flugzeug blieb stehen, und Kanj konnte die beiden Pakistaner, die ihn begleiteten, vorn lachen hören. Dann schlenderte einer von ihnen herbei und löste Kanjs Fußfesseln von der Metallstange unter seinem Sitz. Ein seltsam intimer Akt, dachte Kanj, als der Mann sich dabei an ihn lehnte. So wie vorhin, als sie ihn entkleidet und ihm die Augen verbunden und für den Flug Windeln angezogen hatten. Natürlich nur, um ihn zu demütigen, ihn schon im Vorfeld einzuschüchtern. Dabei wusste Kanj nur zu gut, wohin sie ihn bringen würden, und verstand sehr viel besser als sie, dass aus Angst niemals Erlösung erwachsen konnte.
    »Steh auf«, sagte der Mann. Er war ihm so nahe, dass Kanj seine letzte Mahlzeit riechen konnte. Ranziges Fett und rohes Fleisch. Er legte Kanj die Hand auf die Schulter, um ihn zu stützen, und Kanj zuckte zusammen. Bei dem Überfall hatten ihm die Pakistaner das Schlüsselbein gebrochen, die Stelle war sehr schmerzempfindlich. Kanj unterdrückte ein Stöhnen und schlurfte in den Gang zwischen den Sitzen.
    »Wo sind wir gerade, Stewardess?«, fragte er spöttisch, ohne mit einer Antwort zu rechnen. Er bekam auch keine. Stattdessen öffnete sich die vordere Tür, und der Gestank von Kerosin drang in die Kabine. Irgendwo in der Nähe startete ein anderes Flugzeug, geräuschvoll trieben die Motoren das riesige Gefährt gen Himmel.
    Draußen auf der asphaltierten Rollbahn sprach jemand arabisch mit deutlich jordanischem Akzent, doch das hatte nichts zu bedeuten. Sie konnten ebenso gut in Syrien, Ägypten oder Marokko sein. Lauter schwarze Löcher, in denen ein Mensch verschwinden, in denen Menschlichkeit gegen die Mächtigen kaum etwas ausrichten konnte.
    Kanj blinzelte hinter seiner dunklen Augenbinde, beschwor wieder das Haus in Ouzai herauf, die Stimme seiner Mutter. Schöner als die von Fairuz, hatte er damals gedacht, und hübscher war sie auch gewesen. Das war, bevor der Krieg die Familie zerstört hatte. Seine ältere Schwester saß im Wohnzimmer an den Mathehausaufgaben, das Kinn auf die linke Hand gestützt, die dunklen Augen auf die Seite vor sich gerichtet. Die Klügste in der Familie. In einer anderen Welt wäre sie Ärztin oder Wissenschaftlerin geworden.
    Der Mann berührte ihn an der Schulter, Kanjs Eingeweide verkrampften sich. »Aussteigen«, befahl der Pakistaner.
    In einer anderen Welt, mahnte sich Kanj, setzte den Fuß nach vorn, spürte die Kante der Trittstufe, machte einen tiefen Schritt hinunter auf den Asphalt. Diese Erinnerung hatte er jahrelang gehortet wie einen Vorrat, sie und ein Geheimnis. Eins von beiden würde ihn letztlich retten. Eine Autotür ging auf. Der Mann drückte Kanj Kopf und Schultern nach unten und schob ihn unsanft auf den Sitz. Dann fiel die Tür hinter ihm zu, und Kanj war allein. Seine Haut prickelte in der klimatisierten Kühle.
    Die Fahrt dauerte etwa eine Stunde. Keine Kurven, sie fuhren schnurgerade durch die Wüste, in welche Richtung, konnte er nicht genau sagen. Vermutlich nach Süden oder nach Osten, weg von der Stadt. Soweit er die Landkarte von Jordanien im Kopf hatte, hörte das Land nicht am großen Fluss auf, sondern bohrte sich wie eine Faust in Israels Eingeweide. Von oben drängte Syrien dagegen. Und über Israel lag der Libanon. Beirut, zu Hause. Die Corniche und das Meer, das sich bogenförmig an den Taubenfelsen schmiegte. Der ungezähmte Trubel auf der Place des Martyrs. Die Cafés in der Rue Bliss, die Mädchen von der American University, die sich draußen an den Tischen sonnten. Die Stadt, wie sie gewesen war und nie mehr sein würde.
    Es war schon Abend, als der Wagen endlich anhielt und Kanj herausgezerrt wurde. Der Geruch in der Luft verriet ihm, dass die Sonne gerade untergegangen war. Ein Hauch von Erleichterung und Befreiung. Die Erinnerung an ein anderes Zuhause. Der Schmutz unter Kanjs Füßen war staubfein wie Mehl, festgebacken von Jahrtausenden Sonne und Wind und seltenen Regenfluten.
    Hier sprach niemand. Es gab nur Hände. Hände, die ihn hinunter in einen Raum unter der Erde führten. Finger, die ihn an den Boden ketteten. Den
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