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Das geheime Bild

Das geheime Bild

Titel: Das geheime Bild
Autoren: Eliza Graham
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andere Eltern ihre Kinder wegschicken?«
    Sie stellte den Berg Wäsche ab, den sie trug. »Es ist nicht immer ganz einfach«, meinte sie bedächtig. »Manche von ihnen arbeiten im Ausland. Oder sie haben lange Arbeitstage. Sie haben keine andere Wahl.«
    »Ihre Kinder könnten doch in den anderen Ländern zur Schule gehen. Sie würden Fremdsprachen lernen. Das wäre gut für sie. Oder die Eltern könnten weniger Stunden arbeiten.«
    Darauf reagierte sie mit einem Brummeln, ich wusste, dass ihr Widerspruch nicht von Herzen kam.
    »Werden die Internatsschüler ihr Zuhause nicht vermissen?« Ich würde es vermissen.
    »Ich weiß nicht.« Sie zog ein Bündel Socken aus der Wäsche, und ich wusste, dass das Thema damit beendet war. »Steck die für mich paarweise zusammen, Liebling.«
    »Mum und Dad sind immer beschäftigt und nie für uns da«, beklagte ich mich jetzt bei meiner Schwester.
    Clara sah mich von der Seite aus an. »Irgendwas ist im Busch.« Sie malte mit ihrem Finger einen Kreis auf den Küchentisch.
    »Haben die Bauarbeiter was Dummes angestellt?« Erst gestern Abend hatte ich Dad sich über die Dummheit all derer ereifern hören, die glaubten, ein Türrahmen könne anderthalb Zentimeter zu schmal gebaut werden, ohne dass es bemerkt würde.
    Sie zuckte mit den Achseln. »Weiß nicht genau. Hat was mit Mr. Collins zu tun.«
    Mr. Collins war der Schatzmeister. Ich hatte keine Ahnung, was ein Schatzmeister zu tun hatte. Irgendwas mit Geld zählen. Von Mr. Collins bekamen wir Vollkornkekse mit Schokolade, und er ließ uns auf seiner Rechenmaschine schreiben. Ich hatte bemerkt, dass mein Vater gestern Abend mit Mr. Andrews ins Büro des Schatzmeisters gegangen war. Mr. Andrews war ein alter Freund von Dad und, wie dieser meinte, fast ein Vater für ihn. Er hatte Dad geholfen, nachdem dieser die Tschechoslowakei verlassen hatte. Mr. Andrews und Dad saßen abends zusammen, brüteten über Blättern voller Zahlen und unterhielten sich über die Preise von Fliesen und Ziegeln.
    »Vielleicht hat die Abrechnung nicht gestimmt«, schlug ich vor.
    »Vielleicht.« Clara betrachtete ihren unsichtbaren Kreis. »Mr. Collins’ neuem Baby geht es schlecht. Ich hörte mit, als er am Telefon mit seiner Frau darüber sprach.« Sie gähnte .
    Minuten verstrichen, schwerfällig wie Ewigkeiten. Clara schlug vor, uns mit unseren Rollern nach unten zu schleichen und dort in der Eingangshalle auf dem Marmorfußboden umherzuflitzen, ein Zeitvertreib, der uns zwar während der Schulzeit verboten war, doch jetzt konnte uns dort keiner sehen.
    Wir hatten ein Spiel erfunden, das eine Mischung aus Polo und Eishockey war. Mit Besen anstelle von Stöcken schoben wir einander eine zusammengerollte Socke zu. Wir waren stolz auf unsere Geschicklichkeit, denn es war nicht leicht, einen Roller mit nur einer Hand zu lenken. In der Eingangshalle befand sich das berühmte Letchford-Wandgemälde, das für unsere Familie von doppelter Bedeutung war, weil Dad es gemalt und Mum ihm Modell gesessen hatte. Er hatte sie vor dem Hintergrund des Hauses in einem altmodischen langen blauen Samtkleid gemalt, das Haar mit einem Band zusammengebunden, von dem ein Ende über ihren Hals fiel. Sie war so schön wie Michelle Pfeiffer. Dad war ein guter Maler. Manchmal kamen Besucher einzig zu dem Zweck, sich das Wandgemälde anzusehen. Manche meinten, es sei eine Schande, dass Dad nicht Künstler geblieben sei. Dann pflegte er sich durchs Haar zu streichen und sein lustiges, fast scheues Lächeln aufzusetzen, das ihn eher traurig als fröhlich aussehen ließ.
    Clara schlug ein As in meine Richtung, das ich halten konnte, obwohl ich dabei fast seitlich von meinem Roller gefallen wäre. Ich versetzte der Socke mit meinem Besen einen Schlag, sodass sie Richtung Wandgemälde flog. Clara war bereits dicht dran. Sie stoppte die Socke, bevor sie die Wand traf, lehnte sich aber zu weit nach vorn und wäre über den Lenker gefallen, wenn sie sich nicht in letzter Minute noch mit einer Hand an der Wand abgestützt hätte. Der Roller stürzte um, und sein Haltegriff aus Gummi hinterließ an der Wand ein rotes Schandmal. Leider nicht an irgendeinem unwichtigen Teil der Wand. Er hatte am Bild unserer Mutter geschrappt, sodass sie jetzt aussah, als hätte ein Messer sie vom Hals abwärts aufgeschlitzt.
    Wir wechselten einen Blick. Gleich würde die Pausenglocke läuten. Mum würde kommen, um nach uns zu sehen. Mir fiel das Geschirrtuch neben unserer Küchenspüle ein, und ich
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