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Das geheime Bild

Das geheime Bild

Titel: Das geheime Bild
Autoren: Eliza Graham
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stürmte nach oben, während Clara noch immer fassungslos die Wand anstarrte. Vermutlich dachte sie, ich hätte sie im Stich gelassen. Ich grapschte mir die Flasche Harpic aus dem Schrank unter der Spüle und befeuchtete das Tuch damit. Nach nur wenigen Sekunden war ich wieder bei Clara.
    »Hier.« Ich unternahm einen Versuch, den roten Fleck abzureiben. Er schien sich rasch zu lösen. Auch Claras Gesichtsausdruck löste sich.
    »Hier ist noch was dran.« Sie deutete auf die Stelle, wo die Lenkstange des Rollers aufgeprallt war und eine rote Scharte hinterlassen hatte. Ich sprühte mehr Harpic auf das Tuch und drückte es fest an die Wand. Durch die ganze Halle wehte Zitronenduft.
    Die Pausenglocke schrillte.
    »Beeil dich!«, zischte Clara. »Noch ein Versuch. Gib her.« Sie griff nach dem Tuch. »Lass mich das machen.« Sie bearbeitete die Wand. Jetzt löste sich auch noch der letzte rote Fleck, den die Lenkstange hinterlassen hatte. Doch die oberste Farbschicht löste sich gleich mit.
    »Oh.« Dieses Wort schien angemessen, meine Überraschung zum Ausdruck zu bringen. Ich betrachtete genauer, was Clara freigelegt hatte. »Oh«, sagte ich wieder. Unter dem Dunkelblau des Kleides meiner Mutter konnte ich eine weiße Grundierung erkennen. Und noch etwas anderes. Hellere Farben.
    »Was ist das?«, staunte Clara. »Was ist da drunter?«
    Wir hätten noch von der Wand ablassen können. Die Farbe war nur an einer kleinen Stelle zerstört, man hätte darüber hinwegsehen können. Wir hätten uns damit herausreden können, dass es ein Unfall war. Aber dieser lebhafte Farbton hatte meine Einbildungskraft in seinen Bann geschlagen.
    »Gib mir das Tuch.« Ich nahm es Clara ab und rieb am blauen Kleid meiner Mutter. Es tauchte mehr weiße Farbe auf. Ich attackierte sie regelrecht. Kleine Tupfer Violett und Orange traten hervor. Selbst da hätte ich noch aufhören und eine Entschuldigung für das finden können, was ich getan hatte. Aber ich konnte schlicht nicht mehr aufhören.
    »Merry«, sagte meine Schwester. »Was machst du da?«
    Ich schüttelte den Kopf, wusste selbst nicht mehr, was ich tat, war besessen von einem Dämon, der darauf bestand, dass ich herausfand, was sich unter der Oberfläche verbarg. Also rieb ich weiter und legte fleischfarbene Töne frei.
    »Arme«, sagte Clara trotz ihrer vorherigen Zurückhaltung fasziniert. »Und sieh nur, das hier sind Haare.« Sie klang fast ehrfürchtig. »Es ist eine andere Frau – ein Mädchen.«
    Hinter mir hörte ich Schritte. Absätze klapperten über die Fliesen. Die Eltern zukünftiger Schüler kehrten zusammen mit Dad wieder ins Haus zurück. Jemand holte tief Luft.
    »Meredith.« Die Stimme meines Vaters hätte einen kochenden Wasserkessel einfrieren lassen. »Was hast du getan?«

2
    Zwanzig Jahre später
    E in später Septembertag in Letchford. Champagnerfarbenes Licht. Blätter, die die Farben von Bernstein und Bronze annehmen.
    Ich saß auf dem Fenstersitz des Lehrerzimmers im zweiten Stock und fühlte mich von der Szenerie draußen so ausgeschlossen, als trüge ich ein Schild mit der Aufschrift Außenseiter um meinen Hals. Nicht einmal ein heimwehkranker Internatsschüler im ersten Jahr konnte sich von der allgemeinen Fröhlichkeit draußen ausgegrenzter fühlen. Aber ich hatte kein Heimweh, denn dies war noch immer mein Zuhause.
    Ich beobachtete meinen Vater, der eine kleine Gruppe Eltern übers Schulgelände führte. Sie kamen an einem Beet goldgelber Rosen vorbei, und ich hörte, wie eine Mutter sich für deren Duft begeisterte. Schüler, die gerade erst aus der Türkei, Thailand oder aus Südfrankreich zurückgekehrt waren, protzten mit ihren gebräunten Gesichtern und den schlanken Gliedmaßen in Sportshorts, als sie ihre Eltern zur Turnhalle, den Squashcourts und der Schwimmhalle begleiteten. Als ich im Alter dieser schlanken Teenager war, hatte ich mich in meiner Haut nie so wohl gefühlt. Draußen auf dem Hockeyfeld war ein Spiel in Gang. Eine Hand fuhr triumphierend in die Luft, und es brach Jubel aus, die Spieler wurden von der grünen Biegung der Downs im Süden eingerahmt.
    Mein Vater trug seinen hellgrünen italienischen leichten Sommeranzug. Ich hielt Ausschau nach meiner Mutter, die in ihrem einfach, aber perfekt geschnittenen blauen Leinenetuikleid mit einer elfenbeinfarbenen Kaschmirstrickjacke darüber an seiner Seite hätte sein sollen. Die beiden hätten Models für eine Lebensversicherung oder einen Pensionsplan sein können. Mittelengland:
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