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Das geheime Bild

Das geheime Bild

Titel: Das geheime Bild
Autoren: Eliza Graham
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diesem elisabethanischen Raum zu aufdringlich wirken, Abstand davon genommen. Doch selbst eine betagte Altphilologin war dabei beobachtet worden, wie sie die Polster streichelte, als wären es Kätzchen. Eine Gehirnblutung ereilte meine Mutter, nur wenige Stunden nachdem sie den letzten Reißverschluss in diese Kissenhüllen genäht hatte. Sie hatte in den Wochen davor ständig Kopfschmerzen gehabt, diese aber darauf geschoben, dass sie während der Hitze zu viel Zeit an der Nähmaschine verbracht hatte.
    Die Abendluft kühlte erst jetzt langsam ab. Dieses Jahr wollte der Sommer sich nicht verabschieden, die goldenen Strahlen der tief stehenden Sonne lagen auf dem Rasen. Ich ging zum Gavin House hinüber. Dad hatte in den Achtzigerjahren vier Gebäude für Internatsschüler bauen lassen. Dahinter hatte nie die Absicht gestanden, aus Letchford ein reines Internat zu machen, genauso wenig hatte er je beabsichtigt, Lehrer zu werden. Er hatte sich nach einigem Zögern darauf eingelassen, Internatsschüler aufzunehmen, als Zugeständnis an die veränderten Arbeitszeiten der Eltern.
    »Für Kinder ist es besser, wenn sie von ihren Eltern und nicht von anderen Erwachsenen erzogen werden, egal wie gut deren Absichten und wie qualifiziert diese dafür sind«, pflegte er zu sagen. »Die Familie sollte der Zufluchtsort eines Kindes sein.« Bestärkt haben dürfte ihn in diesem Glauben seine eigene Erfahrung, der vorzeitige Verlust eines Familienlebens. Dad war 1968 nach England gekommen, im gleichen Alter wie die Primaner, die über den Rasen schlurften und auf die Abendbusse warteten, die sie nach Hause brachten.
    Die seit nunmehr zwanzig Jahren dem Wetter ausgesetzten Ziegel von Gavin House hatten einen sanfteren Farbton angenommen, das gedämpfte Rot eines Cox Apfels. Ich verlangsamte meine Schritte. Hier wandelte ich auf Spuren, die ich jahrzehntelang gegangen war. Jeden Moment könnte ich mir selbst als Achtjährige auf dem Fahrrad begegnen, während meine Mutter die späten Rosen zurückschnitt. Ich könnte mir beim Krocketspiel mit Hugh an einem Augustwochenende begegnen, als er Heimaturlaub hatte. Ich könnte das Aufschlagen der Tennisbälle von den Plätzen hören, wo meine Schwester ihre Schläge mit peinlicher Genauigkeit einübte. An diesem Abend lauerten überall Geister, und wenn ich meinen Kopf rasch genug drehte, erhaschte ich einen Blick auf sie. Die Reborn-Puppe hatte mich nervös gemacht.
    Ich betrat Gavin House und strich unbewusst über meine Ärmel, wie um die Erinnerungsfetzen abzustreifen. Mir schlug der beruhigende Geruch von Schülerschweiß und frisch getoastetem Brot entgegen. Hier waren keine Geister. Ich öffnete die Tür zu dem Raum, in dem die jüngeren Schüler ihre Hausaufgaben machten. Als ich eintrat, senkten sie ihre Köpfe wie Kraniche über die Bücher. Es bestand durchaus die Möglichkeit, dass sich der Verursacher des heutigen Streichs jetzt in diesem Raum befand. Er oder sie könnte den Karton im Schrank verstaut haben, während Simon mit dem Rücken zur Klasse an seinem Whiteboard hantierte.
    Der Schüler der Abschlussklasse, der Aufsicht hatte, war so in seinen Laptopbildschirm vertieft, dass er mich nicht kommen hörte. Er klappte den Laptop erst zu, als ich schon gesehen hatte, was er las. Auf seiner Facebook-Seite las ich die Worte: OMG, Totes Baby in Letchford!!! Er lief puterrot an.
    »Sie sollten das lieber löschen und Ihren Freunden sagen, sie sollen dasselbe tun. Es war nur eine Puppe.« Er sah mich zweifelnd an. »Ich habe sie selbst gesehen.« Achselzucken. »Sie werden doch wohl nicht als jemand dastehen wollen, der auf den dummen Streich eines Jugendlichen hereingefallen ist, oder?«

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4
    A ußerhalb der Arbeit beschränkte sich meine Welt auf die schlicht möblierten Räume meiner Wohnung. Es gefiel mir, sie als minimalistisch zu beschreiben, obwohl sie vermutlich zu unaufgeräumt waren, um dieser Bezeichnung gerecht zu werden. Wieder einmal nahm ich mir vor, den Stapel Rechnungen und Verwaltungskram, der auf mich wartete, in Angriff zu nehmen.
    Vor etwa einem Jahr hatte meine Mutter den alten Stalltrakt zu einem Alterssitz für sie und meinen Vater umgebaut, für alle Fälle. Vermutlich hatten sie nicht im Traum daran gedacht, dass ihre neunundzwanzigjährige Tochter wieder zurückkommen würde, um ihn zu bewohnen. Mir gefielen seine winterweißen Wände und die restaurierten Holzdielen und Balken. Irgendwann in nächster Zeit würde ich
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