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Das Gedächtnis der Libellen

Das Gedächtnis der Libellen

Titel: Das Gedächtnis der Libellen
Autoren: Marica Bodrožic
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Baum war ein Gefährte und teilte von da an mein Gedächtnis mit mir; so wie die Bäume ihre Jahresringe haben, so hatten sich auch in mir Kreise abgespeichert, meine Erinnerungskreise. Meine innere Zeit und die inneren Höfe meiner Kinderwelt blieben, sie waren das Fundament für alles Kommende. Die ersten Lehrer vergisst man nicht, sie sind uns eingebrannt wie erstmalig erfahrenes Wetter, der erste Ferienaufenthalt am Meer, die erste Palme, das erste neu zur Welt gekommene Tier, der erste Kuss, der erste Verrat – alles hängt davon ab, wem wir begegnen und ob man uns liebt oder nicht liebt. Meine erste Lehrerin war die Einsamkeit. Die zweite Lehrerin war das Warten. Und alle zukünftigen anderen sind aus diesen beiden ersten erwachsen.
    Ilja hat das alles verstanden, ohne dass ich ihm je etwas hätte erzählen müssen.
    Obwohl Ilja Schriftsteller ist, verabscheut er die schreibende Zunft. Er sagt, er sei überhaupt nicht gerne in Gesellschaft von Schreibenden. Ilja sieht überhaupt nicht aus wie ein Schriftsteller. Und auch ich habe ihn zuerst für einen Sänger gehalten und war dann enttäuscht, dass auch er wie ich Bücher schrieb. Er hat sich auch über mich beschwert, aber nein, ich kann doch keine Schriftstellerin küssen, das geht überhaupt nicht, doch als ich ihm erzählte, dass ich eigentlich Physikerin bin, hat er mich sehr gerne geküsst. Er hat gesagt, ich bin so glücklich, du bist meine erste Physikerin, und ich muss schon sagen, flüsterte er, es ist schade, wirklich sehr schade, dass die Physik und ihre Gesetze uns nicht schon viel, viel früher zusammengebracht haben.

    In aller Stille, unter der Hand, während er seine vielen Witze machte, erfasste er wortlos den Olivenbaum in mir, er wusste, dass ich niemanden brauche und dass die Tiefe meiner Einsamkeit darin zu suchen war, dass ich es nie gelernt hatte, mit den anderen zu leben, dass ich es nicht ertrug, jemanden zu brauchen, dass ich lieber fortging, ganz gleich wohin. Jemanden zu brauchen, sagte er, das würde für dich so etwas wie Sterben sein, nicht wahr?
    Ich schwieg, und er umarmte mich so lange und so fest, bis ich anfing zu weinen. Wir tranken Gin, nur ein Glas, wir teilten es uns. Wir sagten nichts, noch immer sagten wir nichts, draußen in der Stadt war es leise, wie es recht besehen nie leise in Städten ist. Amsterdam hatte ich mir immer laut und fröhlich vorgestellt, doch als wir um kurz vor elf noch Hunger bekamen, hatten selbst in der Innenstadt alle Restaurants geschlossen. Wir tranken dann Rotwein, statt etwas zu essen, und Ilja sah mich wieder mit seinen durchdringenden Augen an, vor denen ich nichts verheimlichen konnte. Sein Blick sezierte mein Inneres, ich vergaß, meine alte Schutzmaske anzulegen.

    Ich spürte, dass etwas Grundlegendes von mir abfiel, die alte Bereitschaft zur Scham war nicht mehr da. Ich hatte immer einen Grund gefunden, mich für etwas, das an mir fehlte, zu schämen. Ich schämte mich wegen einer Bildungslücke, wegen zu auffälligen Lippenstiften, wegen meiner Stimme, wegen meiner Vorliebe für Blumenstoffe.
    Zum ersten Mal in meinem Leben konnte ich jetzt zugeben, dass ich etwas nicht wusste, und ich genoss es, von Ilja die traumhaftesten Erklärungen zu bekommen, an deren Ende immer irgendein Stammbaum auftauchte, der Iljas jüdische Wurzeln bewies. Marina Zwetajewa hat gesagt, dass alle Dichter Juden sind, sagte ich. Ilja imitierte meinen tiefgründigen Tonfall und erfand eine neue Ahnenreihe für mich, die bis zu König Salomo zurückreichte. Als in der Nieuwe Prinsengracht allmählich die Bars schlossen, hatte ich längst jüdische Wurzeln.
    Irgendwie verfügte Ilja über ein Lesegerät, mit dem er meine Haut sondierte und in meinen Augen in meiner Vergangenheit las. Ich bin jedem Menschen dankbar, dem ich in meinem Leben begegnet bin, sagte ich.
    Du bist dankbar, dass man dich geliebt hat, sagte Ilja, du hast alles dafür hergegeben, für einen Krumen Liebe. Nein, das habe ich nicht, sagte ich, aber ich wusste, dass es stimmte. Dass er es verstanden und so laut ausgesprochen hatte, das tat weh, wie eine Platzwunde am Knie wehtut.
    Ilja sagte, aber es ist doch wichtig, dass du dich nicht belügst. Damit du weißt, wie es gewesen ist. Ich nickte, und selbst wenn es nicht gestimmt hätte, wäre mir nichts anderes übriggeblieben, als ihm in diesem Augenblick zu glauben. Er sagte das auf eine wissende Art, wie ein Mensch, der mich schon immer gekannt und geliebt hatte, der den Überblick über
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