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Das Gedächtnis der Libellen

Das Gedächtnis der Libellen

Titel: Das Gedächtnis der Libellen
Autoren: Marica Bodrožic
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eigenen Wärme zur Welt gekommen war, musste es einen anderen Fürsprecher, einen anderen Verbündeten als sein Muttertier haben. Das jedenfalls wollte ich mir unbedingt einreden, ich glaube, es lag daran, dass ich selbst am liebsten von der Luft abstammen wollte, obwohl ich Eltern hatte, das Kind dieser Menschen war und einen Namen hatte, den man mir gegeben hatte und den ich nicht loswerden konnte, weil man so einen Namen einfach behält.
    Kaum jemand macht sich die Mühe, einen eigenen Namen zu suchen. Aber von wem auch immer ich nun abstammte, ich war da, niemand konnte mich mehr wegzaubern. Auch das Tier war da, stand da, auf seinen vier Beinen, so selbstverständlich gehörte es jetzt in unsere Welt, war fortan nicht wegzuzaubern, vorhanden wie die Stühle, der Tisch und die Holzsitzbank, die der nach Amerika ausgewanderte Großvater geschreinert hatte. So, ja, auf diese Art war jetzt auch das Tier da, in all seiner Beständigkeit. Ich gab dem Tier Brot zu fressen, es berührte meine Handfläche – aber es ließ mir meine Finger. Ich spürte das ganze Leben zwischen seinen aufkommenden Zähnen. Sein Maul war warm, wie Mütter warm sind. Das Kälbchen hatte mir sonderbares Glück geschenkt. Ich war dankbar.

32
    Im Bus lächelte ich. Aus der Zugfahrt war eine Reise geworden, bei der ein neuer Lebenshunger in mir ausbrach. Ich sah auf meine hohen Schuhe. Mein roter Angorapullover leuchtete wie ein Marienkäfer. Als ich Ezra zur Welt gebracht hatte, dachte ich immer an den Pullover zurück. Aber im Hotel angekommen, hatte Ilja den Marienkäferpullover erst einmal ausgeschimpft, denn die Angorawolle legte sich über alles, auf seine Jeans, die grünen Turnschuhe, das blaue Jackett. Alles war von diesem gefährlich leuchtenden Angorarot erfasst, dass es mir Angst machte und doch lustiger als kaum etwas anderes war. Nadeshda war ein Geheimnis, aber die Farbe Rot hatte sich entschieden, dem Geheimnis entgegenzutreten. Auf eine Art war es Frühling in Amsterdam, und doch waren alle Jahreszeiten auf einmal spürbar. Es lag an mir, ich war auch vollständig da, mit allem, was ich war, mit meiner ganzen Liebe und mit meiner ganzen Ahnungslosigkeit, so wie im Hohelied Salomos, das für mich stets das schönste aller Liebeslieder war.

    Nadeshda, da bist du ja, sagte Ilja, als ich anderntags über zwei Stunden auf einer Bank vor dem Café du Luxembourg auf ihn gewartet hatte. Da bist du ja, sagte ich zu ihm, als hätte ich nichts gehört, und sah erst jetzt eine Frau neben ihm stehen, eine Fotografin. Sie hatte ihn nach dem Kongresstreffen mit fünfzig anderen Schriftstellern an der Nieuwe Prinsengracht abgefangen. Später zeigte Ilja mir ihre Visitenkarte. Auf der Rückseite stand, dass sie auch Marcello Mastroianni fotografiert hatte. Ein gutes Zeichen, sagte ich, dass sie auch Marcello fotografiert hat, ist bestimmt ein gutes Zeichen. Für was?, fragte Ilja. Ja, für was eigentlich, sagte ich.

    Alles ist geschehen, weil es geschehen wollte, wollte, nicht musste, es musste nicht so geschehen. Ich habe es erlebt, diese Art von Willen, weil das Leben einen eigenen Verstand hat, es wehrt sich, es mag keine Pläne, wenn du willst, dass man sich über dich lustig macht, dann musst du Pläne machen. Leute wie ich denken, dass so etwas banal klingt, und genau deshalb müssen sie immer alles anders als erwartet erleben, damit sie verstehen, dass nicht sie das Leben schreiben, sondern das Leben sie. Jede Banalität wird einem ausgetrieben, auch das, was man für Banalitäten hält, bis in jeden einzelnen Buchstaben hinein wird es einem ausgetrieben, sagte ich zu Ilja, und Ilja sagte, deshalb gibt es doch auf dem Balkan den Ausdruck, dass einem das Leben wehtut. Das Leben, wiederholte er und zog dabei wie Marcello Mastroianni an seiner Zigarette, während wir Apfelstrudel aßen, nicht das Herz, das Bein oder die Hand, das Leben tut einem weh. Es kann wehtun wie der Kopf. Ein Organ, sagte ich, das Leben ist ein Organ. Und Ilja sagte, love it or leave it . So und nicht anders.
    Das ganze Leben ist Balkan, sagte Ilja, man muss es nur wissen, sonst ist man verloren. Natürlich lachten wir wieder darüber. Ich bestellte mir einen Wodka, einen doppelten mit Eis, sagte ich lächelnd zum Kellner, bei dem ich schon morgens einen Café au lait getrunken hatte. Und noch bevor Ilja und ich das Kaffeehaus verließen, fühlte ich eine neue Form von Vergänglichkeit, etwas verrückt anderes, als wäre eine wesentlich neue Schnelligkeit in meine
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