Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das Gedächtnis der Libellen

Das Gedächtnis der Libellen

Titel: Das Gedächtnis der Libellen
Autoren: Marica Bodrožic
Vom Netzwerk:
für mich bedeuteten.
    Es fiel den Leuten im Dorf also schwer, mir in die Augen zu sehen. Es lag auf der Hand, dass es etwas mit meinem Vater zu tun hatte. Er war immer da, stand unsichtbar zwischen ihnen und mir, stand da unter uns, wenn ich in dieses Dorf kam, an der Theke meine Bestellung machte.

    Die Tante schien alles zu verstehen, ich konnte ihre Gedanken förmlich lesen. Aber was das Alles war, das konnte ich damals nicht wissen. Immer dachte ich an das Album, immer an die Libellen, wenn ich dort war und die Tante von allen Leuten Obst und Gemüse geschenkt bekam, sogar im Genossenschaftsladen, weil sie früher oder später die ganzen Kinder aus den umliegenden Dörfern unterrichten würde. So machte man das hier, so überlebten die Tante und ich. Es hat gedauert, aber mein Leben hat mir gezeigt, dass sich alle Wünsche erfüllen, alle, die notwendig sind. Nicht alle auf einmal und nicht in dem Übermaß, das ich in mir aufbaute. Aber alle wichtigen Wünsche sind mir später erfüllt worden, viel später, als ich der Tante Aufwiedersehen sagte, sagen musste, nach New York und Paris ging, um zu studieren. Ich hatte es selbst gewollt, und sie hat alles dafür getan, damit ich das werde, was ich bin, ein wissensdurstiger Mensch. Sie war glücklich, schließlich hatte sie es geschafft, mir die Nonne auszutreiben.

    Wenn ich mich heute an die Erinnerung erinnere und in Verwirrung darüber gerate, ob die Erinnerung mich sieht oder ich sie, dann schmecken manchmal meine Tränen so wie damals das erste Chlor geschmeckt hat, wie an jenem Tag im ersten Schwimmbad meines Lebens, als ich das künstlich blaue Wasser für eine kranke kleine Verwandte der Adria hielt. Aber was ist das Chlor von damals anderes als meine Tränen von heute, die vom Chlor erzählen? In der Gedächtnislandschaft der ersten und zweiten und dritten Sprachen (Lieben, alle Lieben eingeschlossen) wird das Herausragende zu einem kleinen Zeichen; es fließt, wie ein Bach. Später, wenn selbst die Planeten uns wie Zeugen unserer Erinnerung vorkommen, wird aus dem kleinen im Fluss befindlichen Zeichen ein Mythos. Die Wirklichkeit zeigte sich einst nackt, formlos, unbegrenzt. Die Ordnung machte aus ihr etwas Festes, Endgültiges. Dabei bin ich noch so viele Jahre das Kind geblieben, das bei den Besuchen im Dorf an der Hand der Tante zum großen Haus sich ihrer Hand entriss, um so schnell wie nur möglich auf der Holzbank der Großeltern zu sitzen, wartend, dass etwas geschähe. Aber nichts geschah, niemand kam, in mir allein war Amerika. Nur der Wind war mein Gefährte, und sobald die Musik aus dem Radio erklang, summte sich der alte Wunsch in mir hinauf, spiralenartig, in Wellen, der uralte Wunsch zu singen. Da zu sein, durch das Singen, ein Teil der Welt durch und mit meiner Stimme. Und dann ging ich meist ins Haus, öffnete das Fenster, stellte das Radio lauter, sah durch das Fenster hinaus, immer noch Amerika in mir, und jetzt war Amerika mit mir im Haus. Draußen, im Hof, und im Gedächtnis der anderen Menschen, wurden die Lieder hörbar, meine Lieder, die ich eines Tages für alle singen würde, es war Wahrheit für mich, ich malte sie mir so aus. Ich wusste, dass Wahrheit nichts anderes ist als das, woran du selbst glaubst und was du dir ausmalst im Dunklen und im Lichten. Auf diese Weise musste die Wahrheit das werden, was sie in mir schon lange gewesen war, Wahrheit, auch draußen, eines Tages, schon bald. Jeder Grashalm war nach diesem Verstehen mein Begleiter dann, selbst in der Nacht. Sie nahm mich jetzt, anstelle der Tante, fest an der Hand, und ich ging, so tief ich konnte, in die dringlich rufende Dunkelheit. Ich liebte so sehr das Zittern der Schatten, das Leben in der Nacht, alles hatte eine andere Form bekommen. Ich musste sie erkennen, deuten und mich weiterbewegen, so, als sei die Nacht gar nicht Nacht, sondern nur die verlängerte Helligkeit der Träumenden.
    Es kann an vielem liegen, dass ich die Hoffnung noch brauche. Mag sein, dass ich immer noch hinter jedem Baum den guten Vater vermute, dass ich glaube, wieder irgendwo sein Gesicht gesehen zu haben, seine Hände, Schultern und Wangen.
    Auch die Physik hat mir nicht geholfen. Sie hat meine Sehnsucht nur noch größer gemacht. Ich gehörte eine Zeitlang jenen Einsamen an, die wissen, dass sie Teil des Ganzen sind, ich sehe in jedem Fremden das Kind, das ich einst war, und sehe die Füße einer alten Frau in Nowosibirsk an wie etwas mir längst Vertrautes. Wie die Füße einer
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher