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Spieler Eins - Roman in 5 Stunden

Spieler Eins - Roman in 5 Stunden

Titel: Spieler Eins - Roman in 5 Stunden
Autoren: Klett-Cotta Verlag
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KAREN
    Karen mag Kreuzworträtsel, weil damit die Zeit schneller vergeht. Karen näht Quilts für einen guten Zweck, weil sie es genießt, wie das Quilten die Zeit verlangsamt. Karen findet es befremdlich, dass Menschen, die militant gegen Milchprodukte mit abgelaufenem Haltbarkeitsdatum im Kühlschrank vorgehen, nichts daran finden, eine Flasche Kraft-Catalina-Salatdressing für Jahre in der Kühlschranktür stehenzulassen. Sie selbst hat sich dieses Verbrechens schuldig gemacht. Karen erinnert sich, dass ihr Exmann damals, als noch alles gut war, die Kühlschranktür inspizierte und sagte: »Mensch, Karen, diese Flasche Thousand Islands hat ja noch den Mord an Kennedy miterlebt.«
    Karen ist fast vierzig und hatte gedacht, sie würde nie wieder jemanden finden, aber nun fliegt sie zu einem Treffen mit dem Mann, von dem sie hofft, dass er ihr Lover wird. Sie sitzt in einem surrenden Aluminiumrumpf unterwegs nach Osten, acht Kilometer über dem Lake Superior. Ihr ist ein wenig zu warm, deswegen öffnet sie die oberen beiden Knöpfe ihres Kleids und hofft, dass niemand sie beobachtet und für eine Schlampe hält. Warum , denkt sie, soll ich mich darum scheren, ob irgendwelche Fremden mich für eine Schlampe halten? Aber ich tue es eben . Dann fällt ihr wieder ein, dass heutzutage jeder eine Kamera hat und dass jede dieser Kameras sie fotografieren könnte. Herrje, diese Kameras! Diese kleinen, leuchtend blauen Fensterchen, die sie immer von ihrem Platz in einer hinteren Reihe der Aula von Caseys Schule sieht, eine zitternde, saphirblaue Matrix für Erinnerungen, die sich höchstwahrscheinlich nie jemand ansehen wird, denn Leute, die Schulkonzerte aufnehmen, nehmen wahrscheinlich auch alles andere auf, und das Leben ist einfach nicht lang genug, um sich auch nur einen Bruchteil dieser aufgezeichneten Erinnerungen anzuschauen. Küchenschubladen voller ausrangierter Speicherkarten. Ungespitzter Bleistifte. Notizbücher von Immobilienmaklern. Zahnspangen. Die Schublade ist eine Zeitkapsel. Karen denkt: Alles, was wir zurücklassen, wenn wir uns von Raum zu Raum bewegen, ist so was wie eine leere Hülse.
    Auf der anderen Seite des Mittelgangs in der Reihe vor Karen sitzt ein Teenager, der während des Flugs schon einige Male zu ihr herübergeschaut hat. Karen schmeichelt der Gedanke, jemand könnte sie als »scharf« klassifizieren (und wenn auch nur als »scharfe Mutti«), andererseits weiß sie, dass dieser dauergeile Jugendliche wahrscheinlich irgendein tragbares Gerät zum Aufspüren von moralischen Verstößen in seiner Hemdtasche stecken hat und nur darauf wartet, dass Karen noch mehr Knöpfe öffnet, anfängt, in der Nase zu bohren, oder sonst eine dieser Dummheiten begeht, die früher als Privatsache geachtet wurden, aber heutzutage auf irgendeiner Gag-Foto-Seite landen, neben den Digitalfotos von Baseballmannschaften, auf denen ein Spieler kräftig reihert, oder Filmchen von Jugendlichen, die ohne das geringste Verständnis von Ursache und Wirkung von Vororthausdächern auf Trampolins springen und dabei sterben.
    Zur Hölle mit moderner Technik. Karen fummelt an ihren Knöpfen. Ihr Magen knurrt. Die rechte Seite des Flugzeugs ist zu hell. Sie blickt tiefer in den Rumpf hinein und muss an einen alten Fernsehfilm denken, in dem alle Passagiere einer 747 während des Flugs plötzlich verschwinden, alle bis auf fünf, die geschlafen hatten, was sie vorm Verschwinden bewahrte. Im Film wurden die verschwundenen Fluggäste durch ihre zurückgebliebene Kleidung dargestellt. Aber Karen denkt das etwas genauer durch. Was bedeutet es, wenn man verschwindet? Offensichtlich würde deine Kleidung zurückbleiben. Aber das müsste auch für Dinge wie Haarverlängerungen, Toupets und Schmuck gelten … die Liste würde endlos weitergehen … Zahnverblendungen, Kronen, Herzschrittmacher, Metallstifte von Knochenoperationen … sie denkt noch weiter … tja, und wenn man unappetitlich werden will, auch unverdaute Nahrung und – Moment mal – nun, da sie darüber nachdenkt, wird ihr klar, dass auch Haare zurückbleiben würden, denn aus Krimiserien im Fernsehen weiß sie, dass Haare keine DNS enthalten außer in den Haarfollikeln. Und wie stünde es mit Knochen? Knochen bestehen aus Kalziumkarbonat, was bloß eine chemische Substanz ist und nicht nur in Karen vorkommt; Knochen müssten auch zurückbleiben – vielleicht nicht das Knochenmark, aber … aber stopp, hatte Karen nicht irgendwo gelesen, dass auf jede Zelle im
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