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Das Gedächtnis der Libellen

Das Gedächtnis der Libellen

Titel: Das Gedächtnis der Libellen
Autoren: Marica Bodrožic
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Zeit gekommen und als könnten die Stunden jetzt noch viel schneller vergehen, schneller als vor dieser Reise zu Ilja nach Amsterdam. Schneller als vor jeder anderen Begegnung, die ich je zuvor erlebt hatte. Aber würde die Zeit dann ganz aufhören?
    Ich verspürte den Wunsch zu weinen, aber die Tränen kamen nicht, auch an ihnen hatte sich etwas geändert. Niemand außer mir war von dieser neuen Zeit und der in ihr lebendig gewordenen Schnelligkeit erfasst, niemand bekam sie überhaupt zu spüren, nur ich nahm sie wahr, sah, wie die Koordinaten ausgetauscht wurden und wie meine Empfindung eins mit den Wolken wurde. Sonderbar fern wurde ich mir selbst dabei und sonderbar nah, beides zugleich, beides in diesem einen Café mit diesem einen Menschen. Es war ein Gefühl von Offenbarung, eine sonderbare Art, gespalten zu werden. Genau das war mir geschehen, in mir hatte eine Spaltung stattgefunden. Die Liebe ist eine Axt, das sagt einem niemand, wenn man jung ist und es ganz leicht ist, sich zu verlieben. Sie ist die schlimmste aller Waffen und die einzige, die uns hilft weiterzuleben, zu hoffen, obwohl wir in ihr sterben, um weiterzumachen, andere zu werden und weiterzuhoffen. Zu lieben ist die einzige Möglichkeit zu überleben. Die Liebe kennt alle Todesarten. Meine Schwäche ist der Beweis dafür, dass ich lebe. Was ich früher für das Ende gehalten habe, ist nach Amsterdam, nachdem es Ilja und mich dort als ein Wir gegeben hat, ein Anfang geworden. Der Anfang tut weh wie Wunden wehtun, Schnittwunden, die man sich aus Versehen mit dem Papier zufügt. Es erstaunt mich selbst, dass es mir damals möglich war, in der Hoffnung wie in einer Wohnung zu leben.
    Meine romantischen Ideale muss ich von meinem Vater geerbt haben. Trotz allem, was er getan hat. Meine Tante hat mir erzählt, dass Vater vor der Anschaffung des Libellenalbums dafür bekannt war, alle Sprachen dieser Erde lernen zu wollen. Er wollte ein sprechender Mensch sein, hat Tante gesagt, einer, der dadurch auch alle anderen Menschen, überall auf der Welt, versteht. Mein Vater war also ein Romantiker, selbst die Idee, das Libellenalbum anzuschaffen und gegen die Lust an den Sprachen einzutauschen, kann ich nur so deuten. Ich kann ihn nicht anders klassifizieren. Meine Tante ist der Auffassung, dass nicht Amerika ihn zur Flucht bewegt hat, es waren vielmehr die Libellen, ihr Gedächtnis. Aber gerade dadurch wurde er gezwungen, eine neue Sprache zu lernen, nicht, um der Mensch zu sein, der er war, sondern um den zu verstecken, der sich in ihm verborgen hielt.
    Er habe geglaubt, sagte Tante, in Amerika gebe es noch viel, viel schönere Exemplare als bei uns am Mediterran. Das ist natürlich blanker Unsinn, hat Tante hinzugefügt, nichts ist irgendwo auf der Welt schöner als am Mediterran. Es fiel mir schwer, all das zu ertragen, die Vorstellung, mein Vater habe mit dem Erlernen der Sprache vom Libellentöten Abstand genommen, hätte mich ein bisschen getröstet. Meine Tante ging nicht weiter auf Amerika ein, sie pries den Mediterran an wie eine Frucht, die noch niemand kannte.
    Vielleicht beschützte sich meine Tante mit solchen Sätzen. Schließlich ist sie nie im Ausland gewesen. Nicht einmal in Italien war sie, nicht einmal in Triest, wo jeder von uns einmal hingekommen ist. An Triest kam man gar nicht vorbei. Sie sagt so etwas, damit sie sich nicht schämen muss, sie ist eine moderne Frau. Es ist ihr peinlich, dass sie noch nie im Ausland war, schließlich war sie schon mit Camus in Algerien, mit Nabokov in Russland und Amerika, mit Marina Zwetajewa in Prag und Paris. Sie hat sogar die Liebesbriefe Simone de Beauvoirs an Nelsen Algren gelesen, und zwar alle. Wie es dazu gekommen ist, weiß ich nicht, aber nach allem, was ich den Briefen entnommen habe, können sie nur für jemanden interessant sein, der eine heimliche und transatlantische Beziehung lebt. Transatlantische Liebesgeschichten sind nur etwas für Schriftsteller und für Sehnsüchtige, und wenn beides zusammentrifft, hilft eigentlich nur die Katastrophe. Oder eine Reise nach Europa. Aber meine Tante lebte schon in Europa, in einem Land, das zusammengebrochen war, und dass sie diese Liebesbriefe gelesen hatte, konnte nur daran liegen, dass es irgendwo jemanden gab, der das Leben meiner Tante hätte verändern können, aber es letztlich nicht getan hat. Hier gibt es kein Einzelleben, verstehst du, hat sie einmal zu mir gesagt, ich habe kein Privatleben, es gehört mir nichts allein.

    Als ich
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